„In England existiert ein weit verzweigtes Netz öffentlicher Wegerechte, deren Geschichte zum Teil bis ins Mittelalter zurückreicht. Eigentümer eines Grundstückes, über das ein öffentliches Wegerecht verläuft, dürfen dieses Recht nicht einschränken und müssen darauf achten, dass Benutzer des Weges nicht durch die Nutzung durch den Eigentümer gefährdet sind.“
Was wären wir ohne Wikipedia und all die Nerds, die dort so emsig Fakten sammeln. Dafür spende ich gerne ab und zu ein paar Dukaten.
Gut, nun wissen wir also, dass wir bei der Erkundung der englischenCountryside nicht fürchten müssen, dass ein gereizter Stier aus den Büschen stürmen und auf uns zurasen wird, um sein Revier zu verteidigen. Das gibt uns ein sicheres Gefühl bei unserer ersten Expedition, auf einen Hügel hinter Beaminster. Zusätzlich sind wir gerüstet mit einer Flasche Wasser und einer Dose englischer Drops. Wir folgen dem public footpath durch ein Holzgatter und über eine Weide. Zwei Pferde trotten auf uns zu. Wir haben keine einzige, verdammte Möhre dabei. Die Pferde beschnuppern uns zur Begrüßung und erlauben uns, sie am Hals zu kraulen. „Tut uns leid, wir haben keinen Leckerbissen für euch“, flüstere ich dem größeren der beiden, einem jungen Apfelschimmel ins Ohr. Er schnaubt leise. Sein Atem trifft warm meinen Arm.
„Next time we’ll bring you some carrots“, sage ich sicherheitshalber noch mal auf Englisch. Er nickt und begleitet uns auf dem Weg zum nächsten Tor. Wir erzählen ihm, dass er ein verflixt sympathischer Typ ist, a nice guy. Zwischendurch bleibe ich stehen und rupfe ein paar saftige Grasbüschel, die hinter dem Zaun wachsen, grün und saftig, an einer Stelle, die ein hungriges Pferdemaul nicht erreichen kann. Unser Wegbegleiter nimmt vorsichtig das Büschel aus meiner Hand. Sein Maul fühlt sich weich und warm an. Zufrieden kauend geht er neben uns her. Ich könnte schwören, dass er mir aus seinen dunkel glänzenden Augen zuzwinkert, bevor er sich mit einer nonchalanten Bewegung seines Halses an T. wendet. T. spricht Englisch mit ihm. Ich vermute, sie haben so ein Männergespräch und gehe einen Schritt schneller. Am Gatter müssen wir unseren Begleiter zurücklassen Wir winken ihm zum Abschied zu. Er galoppiert mit wehender Mähne über die Weide. Seine Hufe rappen von Lebensfreude. Ein Lachen kitzelt in meiner Kehle. Ich lasse es fliegen. Jetzt führt uns der Weg steil in die Höhe. Meine Muskeln nörgeln, fühlen sich noch eingerostet von der Reise. Ich gebe ihr Gemecker weiter an niemand bestimmtes, sehe in die Wolken, hoffe, dass Groß Britannien unsere Anstrengung zu würdigen weiß. Vögel zwitschern. Ich verbuche es als Anerkennung. Auf halber Höhe passieren wir ein weiteres Tor. Wenige Schritte dahinter, zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, fahren meine Synapsen unvermittelt Achterbahn. Kindheitserinnerungen flattern durch meinen Kopf, Bilder aus alten Märchenbüchern, die ich mit meiner Oma las. Über den Hügel ist ein Teppich aus winzigen Blüten gewachsen, zarte weiße Sterne und zierliche blaue Glocken. Dazwischen ragen verwegene Baumgestalten auf, bei denen ich fast damit rechne, dass sie erwachen und schwerfällig losmarschieren. Unwillkürlich setzen wir unsere Füße vorsichtiger und flüstern während wir durch den Zauberwald gehen. Auf einem umgekippten Baumstamm sitzt ein Squirell, ein Eichhörnchen. Es ist größer als die, die ich aus dem Stadtpark Zuhause kenne und graubraun statt fuchsrot. Mit flinken, kleinen Bissen knabbert es an einer Nuss, die es zwischen den Vorderpfoten hält. Seine Augen sind wie glitzernde schwarze Perlen. Ein kurzer Blick huscht in unsere Richtung. Mister Squirell gestattet uns ein Foto, bevor er flink einen Baum hinauf klettert, wo er nach wenigen Sekunden im dichten Laubwerk verschwindet. Wir waren nicht sicher, ob es vielleicht auch eine Missis Squirell gewesen sein könnte. Die Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen, spricht dafür.

Wunderschön 🙂 Das Eichhörnchen war vermutlich ein Grauhörnchen. Kommt ursprünglich aus Amerika und ist leider dabei, das rote Eichhörnchen zu verdrängen.
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Ja, ich weiß, es war ein Grauhörnchen. In Deutschland sieht man die noch nicht so häufig. In England hab ich noch nie ein rotes gesehen. Da klappt die Verdrängung schon.
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Hier gibt´s bisher nur die Roten 🙂
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So wunderbar lebhaft geschrieben…
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danke dir
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