Englisches Tagebuch Teil 7: please relax oder Glastonbury remix

Egal, wohin wir fahren, ich könnte schwören, dass T. immer die besten Sehenswürdigkeiten kennt.
Ich meine, ich alleine würde in irgendein Land reisen, leicht verpeilt, aber glücklich durch die Tage trudeln, und schon wäre der Urlaub vorbei.
Ich fühle mich im Urlaubsort immer, als lebte ich schon jahrelang dort, entdecke ein Lieblingscafé, wo ich sitze und schreibe oder lese, fahre mal zum shoppen in eine andere Stadt, und wenn ich Lust auf Live-Musik oder Theater habe, suche ich auf dem großen, world-wide-wühltisch, ob es in der Nähe etwas gibt, das sich nach einem tollen Event anhört.
Klar, auf die Art verpasst man oft etwas, aber das ist nicht schlimm, weil ich es sowieso nicht merke. Wenn, dann erst Wochen später. Das Leben ist eben oft ein großes Staunen über das, was alles passiert, während man nicht hinsieht.
Bei T. ist das anders. T. liest Veranstaltungskalender und Reiseführer. Er studiert sie, als müsste er einen Vortrag halten. Und natürlich weiß er genau, welche Ziele eine Tagestour wert sind.
Ziemlich weit oben auf seiner Liste der interessanten Orte in Dorset, steht Glastonbury, die sagenumwobene Stadt des heiligen Gral, das ist der Kelch, in dem Josef von Arimathia das Blut des Gekreuzigten aufgefangen haben soll. Er hat den Gral auf schnellstem Weg nach England gebracht und am Fuß des Glastonbury Tor vergraben, einem 160 Meter hohen Kegelberg, auf dessen Spitze ein Kirchturm aus dem vierzehnten Jahrhundert steht, St. Michael.
Und es geschah ein Wunder. Was auch sonst?
Kaum war der blutgefüllte Kelch in der Erde, sprudelte eine Quelle aus dem Boden, eine mit heißem, rötlich schimmerndem Wasser, die blood spring genannt wird. Blutquelle, das muss man sich mal im Hirn zergehen lassen.
Und als ob das noch nicht genug Magie und Mystik  wäre,  sagt man, dass Glastonbury das geheimnisvolle Avalon ist. Das ist die Insel zu der König Artus nach der Schlacht von Camlann segelte, einsam und tödlich verwundet. Überflüssig zu erwähnen, dass er und seine Guinevere angeblich in Glastonbury begraben sind, weshalb die kleine Stadt schon im Mittelalter ein Wallfahrtsort war.
Es gibt zwei Dinge, die ich dabei nicht kapiere.
1. Wie kann ein Ort, der mitten im Land liegt, eine Insel sein?
2. Wenn das tatsächlich Avalon ist und König Artus alleine dorthin segelte, wieso verdammt noch mal, ist seine Frau dort mit ihm zusammen begraben?
Klar, wir können gar nicht anders, als nach Glastonbury zu fahren.
Die Fahrt zieht sich in die Länge, was an den vielen Kreisverkehren auf der Schnellstrasse liegt. Kurz bevor wir den Ort erreichen, sehen wir auf einem Acker ein gigantisches Schild, auf dem das Glastonbury – Musikfestival angekündigt ist, das hier auf den Wiesen jedes Jahr stattfindet, eine Art Woodstock made in Dorset.
Wenig später sehen wir ihn. Kurz hinter dem Ortseingang, an der rechten Seite, ragt er majestätisch in die Höhe, der Kegelberg mit dem St. Michaels Tor.
„Ich muss pinkeln“, sage ich.
T. nickt. „Passt schon, ich hab’ sowieso Lust auf ein Stout.“
Wir fahren auf einen Parkplatz in der Stadtmitte, den Ort auf uns wirken zu lassen, zu bummeln und irgendwo ein Stout aufzutreiben.
Die Parkgebühren sind fair, wie auf den meisten Parkplätzen hier. Was mir im Augenblick viel wichtiger erscheint, dass es ein Toilettenhäuschen gibt, eine public toilet, die ich eilig ansteuere. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich in Dorset noch nie eine schmutzige, öffentliche Toilette erlebt habe.
Als ich das Natursteinhäuschen betrete und die Tür hinter mir abschließe, nagelt es mich unversehens am Boden fest. Das Klo sieht aus wie andere Parkplatzklos, pflegeleichter Edelstahl und eines dieser tricky Waschbecken, in denen man gleichzeitig Seife Wasser und warme Luft zum Waschen und Trocknen der Hände bekommt. Stell sich das ma einer vor. Aber das geht wahrscheinlich nicht, wenn man es nicht selber gesehen hat, und es ist wirlich nichts, das einem die Füße an den Boden nagelt. Was mich mit offenem Mund stehen und staunen lässt, obwohl ich dringend pinkeln muss, ist die Musik.
Aus einem unsichtbaren Lautsprecher dudelt sanfte Meditationsmusik im Stil von „Keltische Klänge für Jeden“.
Ich merke kaum , wie ich die Jeans herunterziehe und auf die Klobrille sinke. Pinkeln zur celtic harp, definitiv nichts, das man jeden Tag erlebt.
Während es unter mir sanft plätschert und über mir lieblich dudelt, sinkt mein Kinn fast auf die Brust und meine Augen schalten um in den ich-seh-nix-obwohl-ich-gucke-Modus, aus dem sie jäh zurückzucken, als sich eine Stimme aus dem Lautsprecher schlängelt, eine Frauenstimme, die im Tonfall einer Meditationstrainerin in meine Ohren säuselt:
“Welcome in our public toilet. Please relax and leave the place like you want to find it. Thank you for coming. We wish you a nice stay.”
Ehrlich, das haut mich vom Thron. Noch halb in Trance ziehe ich den Reißverschluss der Jeans zu. Hände waschen und nichts wie raus hier.
Vor der Tür steht T.
„Hattest du auch Musik auf dem Klo“, frage ich und merke, wie mein Blick sich allmählich aus der glasigen Starre befreit.
T. verneint.
„Wie jetzt“, hake ich nach, „no music, no warm welcome?“
T. schüttelt den Kopf.
Ich nicke. „Ist wohl nur für Frauen. Männer würden bestimmt brüllend die Wand anpinkeln“, sage ich, „wer will das schon?“
Jetzt brauche ich dringend Kaffee. Auf dem Weg in Richtung Stadtzentrum erzähle ich T. detailliert von meiner unheimlichen Begegnung der sanitären Art. Als wir die Hauptgeschäftsstraße erreichen, fühle ich mich übergangslos wie beim Jazz-Festival in Moers, oder bei einem dieser
Folk-Rock-Festivals, wo sich ein Verkaufsstand mit Indienkram an den anderen reiht. Nur, dass es hier in Glastonbury Geschäfte sind, Indienshops und Esoterik-Läden, die Kristalle, Runensteine und anderes magisches Zubehör auf beiden Seiten der Straße anbieten.
Über allem schwebt ein Duft nach Räucherstäbchen und ätherischen Ölen. Frauen in langen, Samtkleidern mit viel violett und rot, stehen vor den Geschäften und unterhalten sich, vermutlich über Mondphasen, Monatszyklen oder das Erlebnis, der Göttin zu begegnen. Zumindest sehen sie nicht aus, als ob sie Backrezepte austauschen.
Männer mit langen Haaren und bestickten Westen schlendern die Straße entlang. Einige tragen Gitarrentaschen auf dem Rücken und mittelalterlich anmutende Mützen auf dem Kopf. Andere sehen einfach nur aus wie abgewetzte Althippies und ziehen eine Wolke von Grasgeruch hinter sich her.
Wir sind anscheinend in einer verdammten Hollywoodkulisse gelandet. Ich frage mich, ob es hier noch waschechte Engländer gibt, originäre Dorseter. Wenn ja, dann haben sie sich an den Stadtrand zurückgezogen und das Zentrum Heilssuchern aus ganz Europa überlassen. Zwischen den enthusiastisch bunten Läden gibt es Cafés und Gaststätten mit vegetarischen und veganen Speisekarten. Das meiste ist organic food. Neben manchen Türen hängen Schilder, auf denen Tarotkarten legen, Kristallkugel lesen, Energiearbeit, Yogakurse und anderes Zeug aus dem Füllhorn der Esoterik angeboten wird.
Ich schließe die Augen, versuche den Traum abzuschütteln. Als ich sie wieder öffne ist alles noch genauso anwesend wie vorher, bunt und unheimlich real.
„Ich brauche Chips“, flüstere ich, „am besten eine Killerportion“. während ich verstohlen über die Schulter spähe und hoffe, dass die Ladies of Shalott mich nicht gehört haben. Wir steuern verschiedene Lokale an. Nirgendwo gibt es um diese Zeit Chips.  „It’s tea-time, verkündet man uns. Die hübsche Bedienung in einem der Cafés bietet mir mit beruhigendem Lächeln carrot-cake an. Ich brauche keinen bescheuerten Möhrenkuchen.
Ich will fetttriefende Pommes, um meine gewöhnliche Realität zu spüren.
Unwillkürlich schlagen meine Füße den Weg zum Parkplatz ein. Ich sehe ihnen beim Laufen zu und frage mich, ob ich sie wohl überholen könnte.
Die Göttin steh’ mir bei, ich glaube ich bin dicht am Wahnsinn. Ich spüre schon, wie sich ein hysterisches Kichern in meiner Kehle auf den Ausbruch vorbereitet. Glastonbury schafft mich.
Auf dem Parkplatz flüchte ich hilfesuchend aufs Klo. Meditative keltische Klänge umschmeicheln mich erneut, als ich mich auf die Brille fallen lasse.
„Please relax and leave the place like you wish to find it”, wispert die Yogatrainerinnenstimme. Ich atme sehr langsam ein und noch langsamer wieder aus. Plötzlich kommen mir japanische Touristinnen in den Sinn. Ich kann gar nicht mehr aufhören, daran zu denken, wie sie immer wenn sie auf eine öffentliche Toilette gehen, fürchten, dass man draußen ihre Pinkelgeräusche hört. Es macht mich ganz fertig, wenn ich mir vorstelle, wie sie mit schamroten Gesichtern diese Toilette betreten, die Musik hören, sich mit einem seligen Lächeln auf die Klobrille setzen, wo sie der Natur ihren Lauf lassen. Sie lauschen der Musik und verstehen vielleicht kein Wort von der Begrüßung aber Verstehen ist unwichtig. Es zählt nur, dass niemand sie hören kann, egal wie laut und lange sie pinkeln. Es schüttelt mich richtig, wenn ich daran denke, wie glücklich die armen schamhaften Japanerinnen hier in Glastonbury sein dürfen.
Ich lasse das Kichern aus meiner Kehle frei . Es verwandelt sich in lautes Lachen.
Als ich aus dem Häuschen komme, sehe ich in der Ferne den Kegelberg, an dessen Fuß die bloody source sprudelt. Den Teufel werde ich tun,  jetzt diesen Hügel zu besteigen. Ich will zurück nach Beaminster, wo von morgens Sieben bis nachts um Zwölf die Welt noch in Ordnung ist. Oder was  viel besser ist, wir fahren  zuerst ans Meer, nach Westbay, wo es nach Fisch riecht und im Hafen zahllose Imbissbuden Fish and Chips anbieten.
Saint Michaels Tor kann warten.
Bevor mich jemand falsch versteht, Glastonbury ist ein wirklich schönes, altes Städtchen und dieser ganze Esoterikrummel durchaus charmant, wenn man darauf vorbereitet ist. Beim nächsten Mal werde ich den Hügel besteigen, Räucherstäbchen, bunte Tücher oder Patchouli kaufen und ein Stück carrot-cake essen.

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