Jakobs Christkind

Jakob kann nicht einschlafen.
Er denkt an morgen. Er verspürt so ein kribbeliges Freudegefühl.
Wie soll denn dabei das Einschlafen funktionieren?
Morgen ist Weihnachten. Da kommt das Christkind und bringt Geschenke für Jakob. Vielleicht einen großen Bagger, oder sogar das Feuerwehrauto, das er im Fernsehen gesehen hat. Richtig fahren konnte das. Der Junge im Fernsehen hat auf einen Knopf gedrückt und hui ist das Auto tatü tata losgebraust. So eines wünscht sich Jakob. Dann wird er ein richtiger, toller Feuerwehrmann sein. Jetzt, wo er daran denkt, kann er erst recht nicht mehr einschlafen.
Er öffnet die Augen.
Im Zimmer ist es nicht so dunkel wie sonst. Draußen schneit es. Dicke Flocken stupsen gegen die Fensterscheibe. Der Garten ist zugedeckt mit einer glitzernden, weißen Schneedecke. Es sieht aus, als flimmerten darauf winzige blaue, rote und gelbe Lichter. Jakob klettert aus seinem Hochbett und tapst zum Fenster. Das Schneegestöber wird immer dichter. Schön sieht das aus. Über der Terrassentür des Nachbarhauses hängt ein Stern, der abwechselnd rot, gelb und blau aufleuchtet.
Ob die tanzenden Lichter im Schnee von dem Stern kommen?

Jakob will es genau wissen. Er zieht seinen Schneeanzug an, schlüpft in die warmen Winterstiefel und wickelt sich seinen bunten Lieblingsschal um den Hals. Den hat die Oma für ihn gestrickt. Er ist weich wie das Fell von Titus, dem Kater. Am Haken hängt die rote Wollmütze. Jakob findet, dass sie sich kratzig anfühlt. Mama sagt, das wäre Quatsch. Mama muss die Mütze ja auch nicht aufsetzen.
„Jakob, setz deine Mütze auf“, sagt sie immer und dann streiten sie ein bisschen und am Ende gewinnt Mama. Aber sie schläft jetzt.
Jakob kann tun, was er will.
Er klatscht in die Hände. Lacht, die Augen leuchtend wie blaugrüne Glasmurmeln. Er öffnet die Tür, dreht sich noch einmal um, sieht die Mütze, die einsam am Haken baumelt, geht zurück, nimmt Mütze und Handschuhe, steckt sie in die Taschen seines Schneeanzugs. Vielleicht braucht man ja doch eine Mütze, wenn man nachts in den Garten geht und es so stark schneit.
Im Haus ist es sehr still. Nur das Ticken der  alten Standuhr im Wohnzimmer ist zu hören. Papa und Mama liegen schon lange im Bett.
Jakob ist ganz alleine wach.
Das ist noch nie passiert, aber heute ist eben ein besonderer Abend, der Abend, bevor das Christkind kommt. Da kann alles passieren. Vorsichtig tastet Jakob sich durch den dunklen Flur zur Gartentür. Beinahe wäre er über den Schirmständer gestolpert. Puh, das hätte einen Krach gegeben.
Die Tür zum Garten quietscht beim Öffnen. Es hört sich an wie Titus, als Mama ihm einmal auf den Schwanz getreten ist. Ob das Quietschen sie aufgeweckt hat?
Jakob bleibt stehen wie ein Denkmal.
Im Haus ist es immer noch still. Glück gehabt. Leise huscht er hinaus vor die Tür. Schneeflocken schweben ihm ins Gesicht. Er fängt ein paar von ihnen mit der Zunge auf. Sie werden zu kleinen Wassertropfen, die ganz anders schmecken als Regen oder Wasser aus dem Wasserhahn. Sie schmecken nach Winter, nach Sternenluft.
Jakob sieht die Lichter des bunten Weihnachtssterns auf der zugeschneiten Wiese tanzen. Der Schnee glitzert, eine große helle Fläche, die noch niemand betreten hat. Langsam macht Jakob den ersten Schritt ins Weiß und wieder einen und noch einen, eine lange Spur von Schritten bis zum Holunderbusch.
Was ist das?
Dort hinten, hinter dem Apfelbaum, nahe an der Hecke, da, wo das kleine Gartentor ist, da hat sich doch etwas bewegt.
Er macht noch zwei Schritte, versucht zu erkennen, was da ist. Jemand steht dort und sieht zu ihm herüber. Seine Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit. Es sieht aus, als stünde ein Kind an der Hecke. Er schleicht ein Stückchen weiter, hält wieder an. Ja. Es ist ein Kind. Etwas kleiner als Jakob. Es steht ganz still. Er geht noch näher heran. Jetzt sehen sie sich an, Jakob und das andere Kind, ein Mädchen in einem hellen, dünnen Kleid.
„Ist dir nicht kalt“, fragt Jakob. „Du hast keine Jacke an.“
Das Mädchen sieht ihn an, ihre Augen dunkel wie die Augen von Jakobs Lieblingsteddy. Er geht noch ein Stückchen näher und streckt die Hand aus. Das Mädchen weicht einen Schritt zurück, starrt ihn weiter an.
„Hallo, ich bin Jakob“.
Sie klatscht in die Hände und sagt etwas in einer Sprache, die Jakob nicht versteht.
„Ich dachte, du bist das Christkind“, antwortet er. „Du hast so ein schönes Gesicht. Und deine Haare und deine Augen leuchten.“ Er lächelt, hält dem Mädchen weiter die Hand hin. Sie legt ihre Hand in seine. Ganz kalt fühlt sie sich an. Jakob zieht seine Handschuhe aus der Tasche. Den einen stülpt er ihr über die kalte Hand. Dann hält er ihr den anderen hin und macht Zeichen, dass sie ihn nehmen soll. Sie zögert kurz, nimmt den zweiten Handschuh und zieht ihn an.
„Shirin“, flüstert sie, „ich Shirin.“ Dabei tappt sie sich mit der Hand auf die Brust.
Jakob versteht.
„Jakob“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf sich „ich bin Jakob“.
Das Mädchen lächelt.
Jakob merkt wie sein Mund mit lächelt. Shirin nimmt seine Hand und zieht ihn durch das kleine Gartentor. Dahinter liegt die große Wiese vom Turnverein. Das Mädchen zeigt auf die Turnhalle am anderen Ende.„Shirin da geht“ sagt sie.
„Du musst in die Turnhalle gehen?“
Sie nickt, sagt wieder einen langen Satz in der fremden Sprache. Dann lässt sie seine Hand los und geht weiter, auf die Turnhalle zu. Jakob sieht ihr einen Moment nach.
„Warte, ruft er dann und läuft hinter ihr her „Shirin, warte.“
Sie dreht sich um. Ihre Locken sehen ein bisschen nass aus, viele Schneeflocken haben sich darauf niedergelassen. Jakob nimmt seinen bunten Strickschal ab, wickelt ihn behutsam um Shirins Hals. Sie lacht. Da zieht er noch die rote Wollmütze aus der Tasche und setzt sie auf ihren Kopf.
„Das Christkind soll nicht frieren“ sagt er und umarmt Shirin. Es fühlt sich an, als könnte sie kaputtgehen, wenn man nicht aufpasst, leicht und dünn wie ein kleiner Vogel. Sie schlingt ihre Arme um Jakob und küsst ihn erst auf die eine, dann auf die andere Wange.
„Ma’ as Salama “, flüstert sie.
Dann läuft sie flink in Richtung Turnhalle. Jakob sieht so lange hinter ihr her, bis sie nicht mehr zu erkennen ist. Seine Augen brennen ein bisschen vom langen Hinsehen. Langsam dreht er sich um und geht zurück über die Wiese. Seine alten Fußspuren sind vom Schnee verwischt. In seiner Brust hat er ein flatteriges Gefühl, warm und schön.
„Das Christkind heißt Shirin“, flüstert er als er zurück ins Haus geht.

Foto/ ferdelans2008 on Pixabay

4 Gedanken zu “Jakobs Christkind

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