Tatort
Menschen können nicht fliegen wie die Vögel.
Wenn sie sich über die Wolken heben, sitzen sie meist in langen Metallröhren mit starren Flügeln, die von kräftigen Motoren in der Luft gehalten werden.
Manchmal, stürzen sie, rasen hilflos in eine Tiefe, in der sie zerbrechen, Mensch wie Maschine.
So wie in Südfrankreich.
Und über den Trümmern erhebt sich das Weinen und Klagen der Mütter und Väter, der Brüder, Schwestern, Kinder und der Freunde all jener, die Herz an Herz verbunden waren mit den Gestürzten.
Und Viele, die nicht getroffen sind, klagen mit in ihrer Betroffenheit der Verschonten, halten erschrocken, voller Mitgefühl , aber erleichtert die Hände ihrer Liebsten, davon gekommen, doch ahnend, die einzige Sicherheit im Leben ist der Tod.
Und manchmal die Liebe.
Menschen können nicht unbegrenzt schwimmen, nicht wie die Fische, die sich frei in den Meeren zwischen den Kontinenten bewegen.
Wenn Menschen die Meere durchqueren, sitzen sie meist in schwimmenden Kisten, die von kräftigen Motoren vorwärts bewegt werden.
Manchmal sind diese Kisten die einzige Hoffnung auf ein Leben ohne Hunger, Krieg und Angst. Sie sind oft alt und leck, und sie sinken, ziehen die Menschen mit sich in die Tiefe und in die Weite des Ozeans, wo die Kraft schwindet und die Lungen sich füllen mit Tränen des Mittelmeeres .
Körper tanzen auf den Wellen, unbeweint, fremd, ungerufen bis der letzte Atemzug verklingt, ein krampfhaftes Gluckern.
Stille.
Wer kennt die Namen? Wer lauscht dem Weinen und Klagen der Väter und Mütter, der Brüder, Schwestern, Kinder und Freunde?
Manchmal klingt Schweigen so schrill, dass es schmerzt.
Und nach der Tagesschau kommt Tatort, es gibt Chips. Werden Thiel und Börne es richten?
© gabi m. auth
Der Held meiner Kindheit
Ich wurde in eines jener pseudoreligiösen Elternhäuser hineingeboren, in denen man sich kirchlich trauen lässt, zu Weihnachten in die Christmette geht, den Pfarrer achtet und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, mit dem man keinen näheren Kontakt pflegt.
Meine Eltern führten eine Ehe, die von manchen als Mischehe bezeichnet wurde. Mein Vater war Protestant, meine Mutter Katholikin, sie hatten sich vermischt, und eigentlich ging das gar nicht.
Eine Mischehe, das galt in der Kleinstadt, in der sie lebten schon als kleine Revolution. Dabei hatten sie keinerlei revolutionäre Ideen, sie hatten sich einfach nur verliebt, er in ihre schönen Augen und ihr Lächeln, sie in seinen Charme und seine Redegewandtheit.
Sie heirateten trotz familieninterner Widerstände, bekamen nach einem Jahr ihr erstes Kind und zogen in die Großstadt. Der Umzug in die Großstadt hatte auf mich, als gewissermaßen gemischter Nachkomme dieser Ehe, die Auswirkung, dass nach einer katholischen Taufe das Thema Gott und Religion zunächst abgeschlossen war.
Wenn ein Ehepartner glaubt, dass man zum Beten mit nüchternem Magen auf einer harten Holzbank knien muss, während durchdringender Weihrauch die Nasenschleimhaut reizt, und der andere Ehepartner meint, dass man ohne Einsatz von Räucherwerk Zuhause im Wohnzimmersessel beten kann, dann meidet man klugerweise den Bereich Gott und Religion. Man sieht zu, dass man zuerst das Thema „Welt“ miteinander in Einklang bringt.
Mein Vater hatte sich bei der Vorbesprechung zu meiner Taufe dem Priester gegenüber verpflichtet, meiner Mutter in der Religionserziehung der gemeinsamen Kinder in Wort und Tat zur Seite zu stehen. Ihm war nichts Anderes übrig geblieben, da die katholische Familie seiner Frau mehr als doppelt so viele Mitglieder zählte wie seine eigene und zu den alteingesessenen Bewohnern der westfälischen Kleinstadt gehörte, in denen seine protestantischen Angehörigen nur Zugezogene waren. Die Katholiken hatten eindeutig die größere Durchsetzungskraft.
Ich selber hatte mich mangels Kommunikationsmöglichkeit nicht zu dieser Taufe geäußert und mein Schreien angesichts des Taufbeckens und des Priesters wurde mir nicht als Protest ausgelegt.
Sechs Jahre nach jenem Akt der Zwangsaufnahme in die katholische Kirche, wurde mein Vater gewissermaßen offensiv und begann damit, jedes Jahr am Heiligen Abend, die Weihnachtsgeschichte vorzulesen und am Karfreitag die Passionsgeschichte. Ich lauschte aufmerksam mit offenem Mund und begierigen Ohren. Die Weihnachtsgeschichte vermittelte mir stets den Eindruck, dass Maria und Josef in einer unfreundlichen Welt lebten, in der niemand ihnen eine Wohnung gab, obwohl doch jeder sehen konnte, dass Maria hochschwanger war. Schließlich musste die Arme ihr Baby in einem Stall auf die Welt bringen.
Ich fand es ein bisschen traurig, dass das kleine Jesusbaby in einem Stall auf dem Stroh liegen musste, aber sonderlich beunruhigt war ich nicht. Es war warm im Stall, die Eltern waren glücklich, freuten sich riesig über ihren Sohn und kümmerten sich liebevoll um ihn. Es gab wunderschöne Engel und sympathische Hirten, die zu Besuch kamen, und eines Tages kamen sogar ein paar Könige und brachten dem Baby Geschenke. Auf den neidischen Herodes ging mein Vater nicht ein, was gut war, weil mich die Geschichte mit den vielen erschlagenen Kindern schließlich doch sehr beunruhigt hätte. Mit dem Besuch der Heiligen drei Könige endete also jedes Jahr meine Weihnachtsgeschichte. Wir sangen dann immer noch „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und „Süßer die Glocken nie klingen“.
Das war schön, weil wir so inbrünstige Stimmen hatten und weil es danach auch für mich endlich Geschenke gab. Weihnachten war ganz eindeutig ein schönes Fest, fand ich.
Der Karfreitag erwies sich dagegen als ein ganz anderes Kaliber. Das fing schon beim Frühstück an, bei dem meine Eltern mit ernsten Gesichtern ihre Marmeladen- und Käsebrote aßen. Meine Mutter liebte Schinken, Wurst und Fleisch, aber am Karfreitag verzichtete sie stets konsequent darauf. „Weil da unser Jesus gestorben ist“, erklärte sie. Darum war Fleisch an diesem Tag verboten, gleichgültig, wie gut es ihr schmeckte. Allerdings verzichtete sie nicht vollständig auf den Verzehr toter Tiere. Mittags gab es für gewöhnlich Backfisch.
Nach dem Mittagessen las mein Vater dann jedes Jahr die Passionsgeschichte vor und sang zum Abschluss „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, die Karfreitagshymne der evangelischen Kirche. Das Ergebnis war immer dasselbe, ich heulte.
Mein Held aus der Bilderbibel meiner protestantischen Oma, wo er umringt von fröhlichen Kindern in altertümliche Gewänder gekleidet stand und so schöne lange Haare hatte, war wieder einmal unter entsetzlichen Umständen getötet worden. Dabei hatte er für seine Mörder noch ein Lächeln und eine Entschuldigung parat gehabt. Sie wussten seiner Meinung nach nicht, was sie taten. Ich konnte ihm darin nicht zustimmen und hielt das ganze Geschehen für eine schreiende Ungerechtigkeit.
Wenn meine Oma mit mir die Bilderbibel ansah, betonte sie gerne, dass mein Held einmal gesagt hatte: „Lasset die Kinder zu mir kommen“. Ich ließ mir die Stelle immer wieder vorlesen und stellte mir vor, dass ich, mit all den anderen glücklichen Kindern auf dem Bild, neben diesem bärtigen, langhaarigen Mann stände und seine Hand hielte. Ich wollte ganz entschieden eines der Kinder sein, die zu ihm kamen. Leider machte das alljährlich wiederkehrende Karfreitagsritual mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Wie sollte ich mich einem toten Helden anschließen?
Um mich brauchten sich die beiden großen christlichen Kirchen nicht mehr zu bemühen, vermittelten sie mir doch einhellig dieselbe Botschaft, dass mein Held gestorben sei, um uns von allen unseren Sünden reinzuwaschen.
Für meine eigenen Sünden lohnte sich meiner Meinung der Aufwand nicht und die Verbrecher des Naziregimes und andere Mörder sollten gefälligst selbst zur Verantwortung gezogen werden, statt sich durch meinen unschuldigen Helden reinwaschen zu lassen.
Nichtsdestotrotz ging ich mit vierzehn zur Konfirmation wie viele meiner Klassenkameraden. Auf den Geldsegen, den eine Kommunion mit sich brachte, hatte ich verzichten müssen, weil meine Eltern sich mit mir aus dem Einflussbereich des katholischen Familienclans entfernt hatten. Die Möglichkeit, nun anlässlich der Konfirmation beschenkt zu werden, wollte ich mir ganz entschieden nicht nehmen lassen, zumal ich in einem atemberaubend kurzen schwarzen Kleid mit Spitzenärmeln und kleinem weissen Kragen erscheinen durfte. Fast alle meine Freundinnen nutzten diese Gelegenheit, ein aufregend erwachsenes Outfit zu tragen.
Nach der Konfirmation trieb ich mich noch einige Zeit in kirchlichen Jugendhäusern herum und debattierte mit Pfarrern und Sozialarbeitern über die Ungerechtigkeit der Welt, des Krieges, des Hungers in den Entwicklungsländern und andere brennende Themen, die alle in der Frage mündeten: „Warum lässt Euer Gott das zu?“ Die Pfarrer boten mir wortreiche Antworten, die meinen unruhigen Geist nicht zufrieden stellen konnten. Ich hörte Desiderata, „you are a child of the universe and not less than the trees and the stars, you have a right to be here…“
Das war eine Philosophie, der ich zustimmen konnte, ich war wie alle anderen Menschen ein Kind des Universums und wir alle hatten ein Recht, hier zu sein. Wieso also brachten sich einige von uns gegenseitig um, und wieso achteten nicht alle gemeinsam darauf, dass jeder genug zu essen hatte? Mit vierzehn scheinen die Lösungen mancher Weltfragen oft noch sehr einfach.
Ich wandte mich bald ganz von den Kirchen ab. Ich erkannte in ihnen willige Komplizen des Mordes an meinem Kindheitshelden.
Meine neuen Helden hießen nicht mehr Jesus, sondern Jim: Jimmi Hendrix, Jim Morrison, Jimmy Dean, oder sie trugen ähnlich lautende Namen angloamerikanischen Ursprungs. Sie reichten nicht an mein altes Idol heran, aber sie lebten.
Irgendwann trat ich aus den Kirchen aus. Ich verzieh ihnen, aber ich vergaß nie, dass sie in reißerischer Manier die grausamen Details des Mordes an meinem Helden zum Besten gaben, ja regelrecht zu feiern schienen. Überall hingen ihre bluttriefenden Abbildungen eines gekreuzigten, halbnackten Mannes mit verhärmten Gesichtszügen. Natürlich sprachen sie auch von seiner Auferstehung, aber Bilder, die das dokumentierten und feierten, begegneten mir selten, und wenn, dann zeigten sie meinen Helden in grelles Licht getaucht, sehr weit von mir entfernt, unerreichbar entrückt in irgendeine himmlische Sphäre.
Ich glaubte ihnen seinen Tod nie so recht, aber ich konnte das Gegenteil nicht beweisen. Ich wusste nur irgendwie, dass der Held meiner Kindheit niemals weit von mir entfernt sein konnte. Das hätte einfach nicht zu seinem Wesen gepasst. Ich spürte, dass er irgendwo ganz nah sein musste, hatte aber keine Ahnung wo, was ihn fast genauso unerreichbar für mich machte, als wäre er tatsächlich verschwunden in den strahlenden Sphären, wie die Kirchen sie propagierten.
So verschloss ich die Erinnerung an ihn in einem sicheren Winkel meines Wesens und entschied, dass die Kirche keine Ahnung hat.
Er hat Recht“, dachte ich, sie wissen wirklich nicht, was sie tun. Vermutlich hatte er ihnen ein Schnippchen geschlagen und war weder tot, noch in bezaubernd makellose Himmelswelten geflogen, sondern ich würde ihn eines schönen Tages völlig unvermittelt an einem Ort entdecken, wo ich ihn nie vermutet hätte, oder er käme ganz plötzlich durch irgendeine Tür herein und hätte mich gefunden, denn dass er mit mir möglicherweise genauso dringend Kontakt aufnehmen wollte wie ich mit ihm, hielt ich absolut für möglich, sogar für sehr wahrscheinlich.
Ich hätte ihn gerne gerettet, er mich vielleicht auch, schließlich war er ein Held.
Die Jahre vergingen.
Es mag sein, dass letztendlich ich diejenige war, die sich beim älter werden in andere Sphären entfernt hatte und nicht er.
Tot konnte ich allerdings kaum sein, das hätte ich schließlich spüren müssen, oder etwa nicht?
Schließlich las ich eines Tages in einem Buch die Aufforderung: „Stellen Sie sich einmal vor, sie würden nicht an Gott glauben“
Eine faszinierende Idee, dachte ich.
Ich glaubte trotz allem, was dagegen sprechen könnte, an das Wirken einer ursubstanziellen göttlichen Instanz im Universum. Ich glaubte an einen ewigen, unzerstörbaren, göttlichen Urgrund und Impuls des Seins und des unaufhörlichen Werdens. Ich hatte mir noch nie vorgestellt, nicht daran zu glauben. Diese Aufforderung zum Rollenwechsel gefiel mir, ich wollte mich auf die Idee einlassen und versuchte intensiv, mir vorzustellen, dass ich nicht an ein Sein, das im Göttlichen ruht, glaube.
Ich forschte den Gedanken jener nach, die nicht an Gott glauben, bemühte mich, das Leben als Ergebnis eines Urknalls zu sehen, einer Evolution der Materie, eines Zusammenwirkens rein physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten. Ich stellte mir vor, wir wären nichts weiter als ein Haufen von Atomen, Molekülen, Zellen und Organen, die einen gewissen, im Grunde recht kurzen Zeitraum zusammenhalten, um schließlich wieder auseinander zu fallen.
Nahrung füreinander zu sein wäre der einzige, der finale Sinn allen Lebens. Also sollten wir feiern und nehmen, was wir kriegen können, zur Not auf Kosten anderer.
Ja, so könnte es möglicherweise sein, dachte ich. Es waren durchaus logische Gedanken, denen ich mich jedoch trotz aller Bereitschaft zum Rollenwechsel nicht wirklich anschließen konnte.
Es gelang mir nicht eine Sekunde lang, mir ernsthaft vorzustellen, dass ich nicht an Gott glaube.
Ich suchte die Ursache für mein Versagen und fand sie in meinem Inneren.
Tief in mir hatte eine leise Stimme mit freundlichem Spott gesagt:
„Es ist völlig unbedeutend, ob ihr behauptet, dass es keinen Gott gibt, oder ob ihr an ihn glaubt.
Und wenn ihr an ihn glaubt, dann spielt es keine Rolle, wie ihr ihn euch vorstellt.
Nennt es Gott, nennt es Universum, nennt es Buddha, Allah, Jehova, den Urknall oder das Absolute.
Betet es an auf harten Kirchenbänken, oder feiert lieber euren Atheismus an den Forschungsstätten eurer Zivilisation. Ob ihr es anbetet, es leugnet oder es verflucht, ist völlig nebensächlich für den ewigen Kreislauf, in den ihr eingebunden seid.
Ihr könnt das Ewige in euch einmauern, es zur Seite schieben, es mit Füßen treten und darüber lachen. Aber eines könnt ihr nicht tun.
Ihr könnt es nicht daran hindern, an euch zu glauben“.
Ich ließ die Stimme mit geschlossenen Augen in mir nachhallen. Das klang ganz entschieden nach dem Held meiner Kindertage.
Sollte er mich, sollte ich ihn gefunden haben?
Er hat die Kirchen ganz schön angeschmiert.
Wusste ich doch gleich, dass er nicht tot sein kann.
Spatz in der Hand
Wie ein dunkler Fleck liegt er auf dem gepflasterten Hof. Zwischen den Ställen und dem Wohnhaus. Im Schatten. Noch fast nackt. Nur an den Flügeln, dem winzigen Kopf und am Rücken zeigen sich erste flaumige Ansätze des Gefieders. Das Tschilpen der Spatzen klingt unverändert. Wie gewöhnlich sitzen sie in der Dachrinne aufgereiht. Am Dachfirst entdecke ich eine Öffnung, hinter der ich das Nest vermute. Von dort ertönt seit Tagen das unablässige Schreien der Nestlinge nach Nahrung. Eine Stimme fehlt nun. Behutsam hebe ich den kleinen Vogel vom Boden auf und bette ihn in meine Hand. Seine Lider sind geschlossen. Die zarte Wölbung lässt das Rund der Augen erahnen. Knapp darunter beginnt der gelbe Schnabel, der wie ein hilfloses Lächeln aussieht und viel zu groß scheint für den feingliedrigen Kopf. Der Spatz schmiegt den Bauch in meine Hand, die langen, ungelenken Beine eng an den Körper gezogen, embryonal, nahezu gewichtslos. Archaisch wirkt der Nestling, fast wie ein winziger Flugsaurier. Er atmet.
Der ganze Körper ein Atmen, ein Heben und Senken, ein Ausdehnen und Zusammenziehen. Zwischendurch öffnet sich ganz leicht der Schnabel, als ob er mehr Luft in sich hineinziehen wolle, Luft und Leben. Dann ein verlorener, krächzender Laut, fast unhörbar, nicht zu vergleichen mit dem Schreien der Geschwister dort oben am Dach. Einen Moment zeigt sich seine feine Zunge.
Wie muss die Lunge gepresst sein durch den Aufschlag auf den harten Stein. Das Haus ist ungefähr fünf Meter hoch, der freie Fall unendlich weit für einen jungen Vogel, der die Flügel noch nicht zum Flug ausbreiten kann.
Ich bedecke den Findling vorsichtig mit der hohlen Hand, wünschte, ich könnte ihn in sein Nest zurücktragen. Unerreichbar.
In meinem Inneren nistet jetzt ein beunruhigend vertrautes Gefühl. Es dehnt sich allmählich aus. Ein pochendes Wundsein im Herzen und ein Zusammenballen im Bauch.
Als Kind wollte ich alles retten, unterschiedslos, Wespen aus halbvollen Limonadengläsern, Vögel mit gebrochenen Flügeln, oder junge, mutterlose Katzen, denen ich Milch aus einer Puppennuckelflasche einflößte. Das Gefühl, das ich nun in mir spüre, ist wie ein inneres Aufbäumen, ein energisches Nein zu dem lautlos wartenden Tod. Ein trotziger Griff nach Leben, nach Erhalt jedes winzigen Lebens, besonders eines Lebens, das erst begonnen hat. Ich will, dass diesem Spatz ein Federkleid wächst, will, dass er die Augen öffnet und mit flinken Kopfbewegungen die Umgebung beobachtet. Ich will, dass er mit den anderen in der Dachrinne sitzt und tschilpt. Ich will, dass er die Flügel ausbreitet und fliegt, der ganze Körper ein jubelnder Flug am Himmel.
– Ich will –
In meinen Händen spüre ich das Auf und Ab des Atems und den feinen Herzschlag. Ich werde kämpfen.
Vorsichtig, aber energisch hauche ich auf den zerbrechlichen Körper, eine erste Hilfe, um ihn vor dem Auskühlen zu schützen. Kurz wende ich meinen Blick von dem Findling ab, nach oben, zum Küchenfenster, rufe zu meinem Mann hinauf, er soll ein Nest aus Wärmeflasche und Wollsocken bauen. Dann hauche ich weiter auf das Vögelchen in meinen Händen. Jetzt öffnet sich der gelbe Schnabel, und es krächzt aus ihm heraus.
Wie hilflos, dieses Krächzen, dieser Schnabel, diese fest an den Körper gepressten Flügel, dieser Mensch mit einem gestürzten Vogel in der Hand.
Wann habe ich angefangen zu weinen?
Meine Hände müssen das Vögelchen wärmen. Ich kann die Tränen nicht wegwischen, neige den Kopf zur Schulter und reibe die Wange an meinem Pullover trocken. Ich hauche wieder und wieder auf den kleinen Vogel in meiner Handhöhle, im gleichmäßigen Rhythmus meines eigenen Atems.
Wird sein Atmen angestrengter, der Herzschlag langsamer?
Ganz leise entschlüpft er sich und mir, als ob sich sein Leben durch meine Finger gestohlen hätte. Die Brust hebt und senkt sich nicht mehr. Kein Herzschlag.
Ich öffne meine Hände, blicke auf die zerbrechliche Kreatur. Das Köpfchen ist leicht zur Seite geneigt, der große Schnabel zusammengepresst, so anrührend verletzbar, so schmerzlich still. Mit einem Finger streiche ich über die spärlichen Federn. Die Entscheidung über Leben und Tod liegt nicht in meiner Macht. Ich stehe vor dem Haus, ein totes Spatzenbaby in der Hand und verstehe.
Spatzenzeit reloaded
Es war glaube ich John Lennon, der gesagt hat: Leben ist das, was passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu machen.“
Wer auch immer es gesagt hat, der Mann hatte verdammtnochmal Recht.
An dieser Stelle sollte der nächste Teil des Englandtagebuchs stehen. Für alle, die es gerne lesen, es wird natürlich weitergehen, sofern das Leben meine Pläne berücksichtigt.
Nur eben nicht jetzt.
Das liegt daran, dass Juni ist.
Die Spatzen haben ihre Nester am Dach des Pferdestalls gebaut, der sich an unser Haus lehnt wie ein Greis, der Wange an Wange neben seiner Frau auf der Parkbank sitzt.
Wie immer in dieser Jahreszeit höre ich das Schreien der Nestlinge unter dem Dach.
Wie jedes Jahr hoffe ich, dass sie überleben.
Jeden verdammten Juni seit ich hier wohne, fallen ein paar von ihnen aus dem Nest, stürzen auf den Steinboden vor dem Haus. Meistens sind sie sofort tot. Einige von den sehr jungen, noch fast nackten Spatzen, die fast wie kleine Saurier aussehen, starben wenige Minuten, nachdem ich sie gefunden hatte, in meinen Händen. Zwei von ihnen, die schon erste flaumige Federn hatten, überlebten immerhin einige Tage.
Ja ja, ich weiß, es sind nur kleine Spatzen, nichts weiter, sagen manche.
Für mich ist das anders. Ich bin so eine alte Hippie-Else, eine, die im Freibad Wespen aus dem Becken fischt und auf die Wiese trägt, wo sie trocknen und dann weiter fliegen. Klar schimpfe ich auch auf die verdammten Wespen, wenn sie mich mal stechen, aber beim nächsten Mal trage ich sie wieder aus dem Wasser. Als Kind habe ich wohl erwartet, dass sie mich als „besonders nützlich“ kennzeichnen, so dass alle ihre Wespenkollegen das Zeichen sehen und mich verschonen. Wenn ich es genau betrachte, bin ich in meinem Leben tatsächlich nur drei Mal von einer Wespe gestochen worden. Ich nehme an, die drei waren nicht gut im Zeichen lesen. Oder aber sie haben mich auf diese Weise gekennzeichnet und ich seh’s nur nicht.
Egal, was nun die Rettung der gefallenen Spatzenbabies angeht, es blieb jedes traurige Mal bei dem Versuch. Keiner der kleinen Findevögel hat überlebt. Und ja, ich habe geheult. Obwohl ich die Aussichtslosigkeit meiner Versuche nicht vergesse, will ich keines von ihnen hilflos dort am Boden liegen lassen wo Pferde, Reiter, Hunde und Katzen vorbei laufen und wo die Eltern keine Chance haben, ihr Junges weiter zu füttern. Ich meine, ich könnte es nicht. Für mich sind es Babies, atmende, fühlende, kleine Federlinge, die das Potential des freien Falls genaus so in sich tragen wie das des freien Fluges. Alleine das macht sie uns Menschen ähnlich.
Okay, also, wie gesagt, es ist Juni, da fallen die Spatzen aus dem Nest. Und vor mir auf dem Hof, direkt neben der Mülltonne, hockt plötzlich so ein schreiender kleiner Nestling. Es gibt keine richtige Beschreibung für das Gefühl, das der Anblick dieses winzigen Wesens in mir auslöst. Alles in mir geht auf standby mit Ausnahme dieses namenlosen XXL Gefühls.
Und ehe du bis zehn zählen kannst, sitzt das Vögelchen in einem Karton voller Heu in meinem Badezimmer und ich erinnere mich nur vage, wie es dorthin gekommen ist. Der Kleine ist nicht ganz so federlos wie seine verstorbenen Vorgänger. Er hat sogar schon winzige Schwungfedern an den Flügeln. Wie er da so zusammengekauert im Nest sitzt, könnte man ihn fast für vollständig halten, wäre da nicht dieser übergroße Schnabel mit den gelben Mundwinkeln. Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann, der es noch nie gesehen hat. Wenn der Winzling nur ein wenig die Flügel spreizt und versucht, sich wärmesuchend tief in das Heu zu graben, dann sieht man, dass er unter den Flügeln und am Bauch noch nackt ist. Seine Haut ist etwas rötlicher, aber im Grunde genau wie unsere Haut. Ich lege ihm eine Wärmeflasche unter das Heu und koche ein Ei.
Vor kurzem habe ich gesehen, wie ein Nestling gefüttert wurde. Der Tierarzt hatte Quark verordnet, verrührt mit gekochtem Eigelb und geriebenem Zwieback. Kleine Bröckchen dieser Mischung wurden auf einen Zahnstocher gespießt und dem Vogelbaby vorsichtig tief in den weit geöffneten Schnabel gesteckt.
Es kommt mir so vor, als hätte das Leben mir den Crash Kurs in Vogelaufzucht beschert, weil ein Spatzenbaby auf mich wartete. Oder war es am Ende umgekehrt?
Wie auch immer, mein halb gefiederter Nestling bekommt Quark mit Ei und Zwieback. Er sperrt den Schnabel so weit auf, dass man meinen könnte, er wäre ein Schnabel auf Beinen, ziemlich langen, wackeligen Beinen, die ihm das Aussehen eines Flugsauriers geben. Wenn der Schnabel geschlossen ist verleiht er dem winzigen Spatzengesicht etwas clowneskes, wegen der gelben Schnabelränder, die aussehen wie ein aufgemalter Clownsmund. Ein trauriger kleiner Clown, der Hunger hat und friert.