Es regnet. Schwer lasten graue Wolken auf dem Land. Die Pferde auf der Weide stehen aufgereiht, hölzern, als hätten sie den Blues. Wie denn auch könnte heute die Sonne scheinen, angesichts der entsetzlichen Bilder? Im Laufe der Jahre gab es viele Berichte aus Kriegsgebieten. Mit grausamen Bildern. Was macht diese hier so durchdringend anders, dass es bis auf die Knochen geht, das Herz für einen Moment erstarren lässt? Nicht in ihren Dimensionen, aber in der Missachtung des Lebens, dem gänzlich fehlenden Respekt vor der Schöpfung lassen die Taten, die dort zu sehen sind, an das Dritte Reich denken. Mitten in den Straßen einer Stadt wahllos herausgegriffene Kinder, Frauen und Männer, ermordet, vergewaltigt, erschossen. Männer hingerichtet, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Das Weiß der Kabelbinder um tote Hände brennt sich in die Netzhaut und bleibt. Eine unsichtbare Narbe der Unmenschlichkeit, der Finsternis in der Welt. Verdunkelt den Himmel über Russland. Schreibt die Namen der Toten in die schwarzen Wolken. In großen Buchstaben. Blutrot für Alle, die den Lügen ihrer Führer glauben. Löscht den Namen des Aggressors aus dem Buch des Lebens, aus der Geschichte der Menschheit.
Ich schreib meine Fragen in den Sand der Wind wird sie verwehen von den Bergen aufs Meer vom Meer zurück aufs Land trägt er in jedem Sandkorn den Spiegel meiner Gedanken mit sich fort hinaus in die Welt vielleicht.
Bomben auf Mariupol Menschen rennen schreien, fallen. Im Korbsessel neben dem Fernseher der Kater putzt sein Gesicht Krieg und Frieden nebeneinander mitten in meinem Wohnzimmer weit entfernt ganz nah hochgradig real. (c) Gabriele Auth
Geh uns aus der Sonne alter Mann. Du verdunkelst die Tage mit deiner Gier, beschmutzt, was hell war. Verlottert im Rausch deiner vermeintlichen Bedeutsamkeit zerrst du Alles in den Schlund deiner Selbstsucht. Wie erleichtert werden wir sein, wenn der Lauf der Geschichte dir Zügel anlegt, dich reitet wie einen störrischen Esel tief in deine eigene Hölle. Dein wütender Abgesang wird kurz nachhallen. – Schweigen – – Neustart – Ohne Dich.
»Haben wir den Mut, nach der Angst zu fassen wie nach einer Klinke und einzutreten«.
Diese letzte Zeile aus einem Gedicht von Jan Skácel passte zu meiner eigenen Verfassung genauso wie zu dieser verdammten Pandemie.
Die Regierung verkündete einen bundesweiten Lock Down. Drei Tage danach rief ich beim Gynäkologen an.
»Ich möchte gerne heute noch zur Untersuchung kommen. Da ist ein Knubbel in meiner Brust«. Mein Hals fühlte sich eng und kratzig an. »Kommen Sie am besten direkt in die Praxis. Wir schieben Sie dazwischen«, sagte die Sprechstundenhilfe. Während der Fahrt zum Arzt tobte in mir ein Kampf. Zwanzig Prozent Zuversicht versuchten, sich gegen achtzig Prozent Angst zu behaupten. Das Gefühl, das sich dabei in meinem Körper breitmachte, zeigte nur zu deutlich, die Angst stand auf dem Siegertreppchen. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Gynäkologen lag ich auf der Untersuchungsliege. Auf dem Bildschirm neben mir leuchtete das Ultraschallbild. Wir sahen beide stumm auf einen dunklen Fleck, der sich in meiner Brust abzeichnete. Er war eingerahmt von milchigweißen, strahlenförmigen Linien und sah den Bildern ähnlich, die es bei Google zu sehen gab. Erschreckend ähnlich. »Das sieht schlecht aus«, wisperte ich. Aus rätselhaften Gründen schien es weniger bedrohlich zu sein, wenn man es nicht so laut aussprach. »Nun ja«, erwiderte der Arzt »es sieht so aus, ich möchte Sie gerne rüberschicken ins Marienhospital zur weiteren Diagnostik «. Seine Stimme klang beinahe neutral. Doch am Ende des Satzes siedelte ein winziges Innehalten. Unvermittelt entwickelte sich in mir ein verstörend kaltes Gefühl, bahnte sich seinen Weg vom Bauch aus in alle Richtungen meines Körpers, schien sämtliche Nervenbahnen zu kräuseln. Wasser, über das kühl der Wind streicht und kleine Wellen hervorruft. Eine Mischung aus Widerstand und Ergebenheit durchbohrte die innere Kälte. Ein geh-rüber-in-die-Klinik-du-kannst-nichts-tun-ob-du-willst-oder-nicht Gefühl. Beklommen nahm ich den Überweisungsschein in Empfang und ging zum Krankenhaus, das ungefähr fünfhundert Meter entfernt lag. Der Arzt in der onkologischen Ambulanz machte eine weitere Ultraschallaufnahme. »Das müssen wir uns gleich mal genauer ansehen«, sagte er und schickte mich zurück in den Wartebereich. Onkologische Ambulanz! Der Name waberte in düsteren Buchstaben durch meinen Verstand. Ich saß in einer verdammten Krebs Ambulanz und wartete auf weitere Untersuchungen. Die ließen nicht lange auf sich warten. Zuerst eine Stanzbiopsie. Für alle, die das nicht kennen, dabei wird mit einer sogenannten Stanznadel ein kleines Stückchen Tumorgewebe ausgestochen wie ein winziges Weihnachtsplätzchen, in meinem Fall drei winzige Weihnachtsplätzchen. Klingt das ein bisschen gruselig? Das war es irgendwie auch, aber besonders schmerzhaft fand ich es nicht. Mich quälte eher etwas anderes, da gab es definitiv einen Tumor. Stellte sich nur die Frage, ob er gutartig oder bösartig war. »Machen Sie sich nicht verrückt«, sagte der freundliche, weißhaarige Arzt, »warten wir erstmal ab, was die Pathologen sagen. Das Ergebnis sollte in zwei Tagen vorliegen. Dann sehen wir uns wieder«. Machen Sie sich nicht verrückt. Toller Spruch. Klar machte ich mich verrückt. Obwohl, das trifft es nicht genau. Ich stand eher in den Startlöchern einer sich anbahnenden Akzeptanz, dachte an die Ultraschallaufnahme, die so beängstigend an die Bilder im Internet erinnerte.
»Es sah nicht gut aus«, sagte ich, als ich nachhause kam. »Es sah verdammtnochmal nicht gut aus«. T umarmte mich. Hielt mich. Schweigen. Stabilität in der Umarmung, wo alles in mir zusammenzubrechen schien »Lass uns nicht gleich das Schlimmste denken«, sagte T.
»Ich denke nicht das Schlimmste, bloß das Realistische«, antwortete ich. Dann erzählte ich von den Untersuchungen, stand dabei innerlich vor einer riesigen Kiste Furcht neben einem sehr kleinen Kästchen Hoffnung, ein Zustand, der die nächsten Tage anhielt. Was wird wenn? Was, wenn … ach Quatsch … aber wenn doch … das kann nicht sein … alles wird gut. Aber wenn nicht? Was. Wenn. Nicht …?
»Haben wir den Mut, nach der Angst zu fassen wie nach einer Klinke und einzutreten«.
»Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will. « Diese Sätze hat Rainer Maria Rilke an einen jungen Dichter geschrieben. Ihnen gebührt ein besonderer Platz in meinem Leben, weil sie mir durch ein skurriles, schreckliches, trotzdem eigenartig schönes Jahr geholfen haben. Sie begleiten mich immer noch .
Viele werden sich gut erinnern, wie es war, wie der ganze Wahnsinn begann. Im Januar 2020, fünf Monate nach T’s Rückkehr, brach in China eine Epidemie aus. Eine Infektionskrankheit der Lunge. Sie wurde hervorgerufen durch ein neuartiges Virus, das von der WHO den Namen Covid 19 bekam. Anfangs schien es nur eine von vielen Meldungen in den Nachrichten zu sein. Ich glaube, die Menschen machten sich hier in Deutschland wenig Gedanken darüber. Das gilt jedenfalls für mich. China war weit. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Meine linke Brust fühlte sich irgendwie ungewohnt an. Da war eine Schwellung, die weh tat, wenn ich mit den Fingern darauf drückte. Eine Brustentzündung, dachte ich, gab den Begriff bei Google ein, mit dem Zusatz »Menopause«. Na bitte, Google wusste Bescheid. Solche Entzündungen treten zwar überwiegend bei stillenden Müttern auf, können aber auch in der Menopause vorkommen. Ich rief die Hausärztin an. Sie empfahl mir, Wickel mit Retterspitz zu machen. Das hatte Google auch vorgeschlagen, also kaufte ich Retterspitz. Die Umschläge hatten eine angenehm kühlende Wirkung, die Schwellung ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Beinahe lautlos schlich sich ein hässliches Gefühl heran. Schlängelte sich in meine Gedanken. Vielleicht war Retterspitz gar nicht die Rettung? Konnte sich etwas Schlimmeres in der Brust eingenistet haben?
Aber … ich hatte regelmäßig beide Brüste abgetastet … wieso gab es da plötzlich diesen Knubbel? Es lässt sich nicht leugnen, ich bin nachlässig, was Besuche beim Frauenarzt angeht. Da waren doch nie irgendwelche Auffälligkeiten gewesen, na ja und eine Schwangerschaft war nicht mehr zu erwarten. Ich fühlte mich sicher. Gesund. So what?
Inzwischen war es März geworden. Aus der Epidemie in China hatte sich eine Pandemie entwickelt, die, während ich dies schreibe, die Welt immer noch im Griff hält. Corona Pandemie. Manche denken bei dem Wort Corona an das gleichnamige Bier. Mir fällt eher eine Krone ein. Entspricht das Bild von der Krone, wenn man genau hinsieht, nicht dem Aussehen des Virus? Eine stachelige Krone. Dornenkrone? Es mag verrückt klingen, aber in meiner Fantasie passt das Bild von der Dornenkrone genau zur Entwicklung und zur Situation der Menschen. »Ecce Homo – Seht ein Mensch«, heißt es in der Bibel. Pilatus ruft diese Worte einer aufgeregten Menschenmenge zu und zeigt dabei auf den Mann neben sich, Jesus. »Seht ein Mensch«. Für alle, die es nicht kennen, in der Situation ging es um eine Entscheidung zwischen Begnadigung und Tod. »Kreuzige ihn«, brüllte der Mob. Kurz darauf drückte man Jesus eine Dornenkrone auf den Kopf. Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld. Ich muss bei dieser Geschichte unwillkürlich an die heutige Medienlandschaft denken, besonders an Vorkommnisse im Social Media, an all die Hasskommentar bei Facebook oder Twitter, oft befeuert von Berichten und Meldungen in Zeitungen und im TV. Kann man sich ernsthaft die Hände in Unschuld waschen, wenn man einen unschuldigen Menschen verurteilt, nur weil die Masse danach schreit? Und, wenn man sich gegen das vermeintlich Vorbestimmte stellt, nimmt es dann trotzdem seinen Lauf? Manchmal kommt es mir vor, als könnten Pilatus und Jesus zwei Teile in mir selber sein, möglicherweise in jedem von uns. Diese Vorstellung würde zu Rilkes Text über Drachen und Prinzessinnen passen. Aber das ist meine persönliche Sicht. Du siehst das vielleicht ganz anders. Wie auch immer, da war dieser Knoten in meiner Brust. Er verursachte ein mulmiges Gefühl in mir, das von Tag zu Tag aufdringlicher wurde. Konnte ich die Augen noch länger vor der Realität verschließen, während ich fleißig Retterspitzwickel machte? Okay, ich googelte das brutale Wort. »B r u s t k r e b s«. Die Ergebnisse waren beklemmend, egal, ob Erfahrungsberichte oder Bilder. Kein Zweifel, ich brauchte dringend eine fachärztliche Diagnose. Dann würde alles gut sein.
Stell dir vor, das Leben bietet dir die Gelegenheit, ein verschüttetes, ungelöstes Trauma zu erkennen, neu zu fühlen und schließlich loszulassen.
Aber, und das ist der entscheidende Punkt, es wird abscheulich weh tun. Und du kannst scheitern.
Wie reagierst du?
Zögerst du? Willst du dich weiter einrichten im warmen, dunklen Nichtwissen?
Denkst du frei nach Adler: „Lass doch die Toten ihre Toten begraben“.
Stell dir vor, die Toten begraben ihre Toten nicht. Stattdessen graben sie sich durch dein Herz tief in den Körper und flüstern dir zu: „Lerne, uns zu lieben. Lerne, den Tod zu lieben. Lerne die alte Erschütterung zu umarmen. Schau durch sie hindurch und finde ein verlassenes Kind. Sei behutsam, liebevoll, während du das Trauma aus deinem Herzen, deiner Brust ziehst und dem Fluss des Lebens übergibst. Dann reiche Herrn Adler die Hand und richte deine Aufmerksamkeit auf die Zukunft.
Gibt es eine Gottverlassenheit oder nur Menschenverlassenheit und Selbstverlassenheit?
Hängen diese Drei eventuell zusammen? Wenn du dich von allen oder auch nur von einem, für dich wesentlichen Menschen verlassen fühlst, hast du dich dann in Wahrheit selbst verlassen?
Gottverlassenheit.
Gott. Möglicherweise stößt einem dieses Wort bitter auf. Ist Gott ein Hoax, eine Fehlermeldung, mit der Menschen sich seit Jahrtausenden in die Irre führen lassen?
Oder führen sie sich selbst? Religion, ein Denkfehler, der dem Menschen die Unschuld raubt, ihn abtrennt von sich selbst, vom Bewusst-Sein, von der Erkenntnis des Lebens? Starr verdorrende Seitenarme des ewigen Flusses? Religionen lassen ausreichend Wasser, um nicht zu verdursten, doch nicht genug, um den Durst zu stillen. Durst, den es nicht gäbe ohne Religion, ohne unantastbare Gottesidee. Gott los sein. Das Leben annehmen in seiner Fülle, in seinem Nichts und Alles. Vorletzter Satz, des Nazareners am Kreuz: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Oder vielleicht in anderer Übersetzung: „Mein Gott, wie hast Du mich erleuchtet.“
Schließen diese beiden Übersetzungen einander aus? Im Loslassen von Religion und starrer Gottesidee, in der Verlassenheit liegt Erlösung, schwingt am Ende der Satz: „Es ist vollbracht“. Ist diese Gottverlassenheit ein Fluch oder vielleicht der Same der Auferstehung? Wem es leichter fällt, der mag das Wort „Gott“ durch Licht oder Liebe ersetzen.
Was das alles soll?
Am besten, ich fange am Anfang an, oder zumindest an dem Punkt, der gut am Anfang meiner Geschichte stehen kann. Das war für mich der Moment, als ich in die Finsternis gefallen bin. Ganz unvermittelt. Von einer Sekunde zur anderen. (c) Gabriele Auth, Juni2021