Schuld

Am 6.8. vor 75. Jahren  fiel die Atombombe auf Hiroshima, besser gesagt, sie wurde geworfen vom US amerikanischen Militär, obwohl Japan bereits Kapitulationsbereitschaft zeigte.

„Das verstehen, das einordnen wollen, ist dasselbe wie in der Kindheit, doch die Taten haben sich unendlich weit davon entfernt. Wie lässt sich Hiroshima begreifen und einordnen, wie Auschwitz, Vietnam, wie Gaza, Syrien, Afghanistan?

Die Suche nach Schuldigen erhöht nicht das Verstehen. Trotzdem schieben Menschen die Schubladen in ihren Köpfen befriedigt zu. Hauptschuld zugeordnet, alles ordentlich etikettiert. Das Leben geht weiter wie gehabt.“

(co) Gabriele Auth

 

Auszug aus einer Kurzgeschichte, veröffentlicht in meinem Buch: „Mensch lernt von Mensch“ bestellbar leider nur noch direkt beim Masou Verlag.

Weihnachten

Am Fenster sitzen und den Schneeflocken zuschauen, wie sie in einem wirbelnden Tanz zur Erde schweben.
Lautlos stupsen sie an die Fensterscheibe, rutschen langsam herunter. Draußen ist alles ist mit einer puderigen Schneedecke überzogen, die Bäume, die Wiesen und das Dach des Gartenhäuschens.

Schnee ist so irdisch wie jede andere Naturerscheinung. Und doch hat er etwas Unirdisches, Magisches in seiner Lautlosigkeit. Er verwischt Wege und Straßen, dämpft alle Klänge, lässt die vertraute Welt neu und unberührt aussehen.
Wenn man Schnee unter einem Mikroskop betrachtet, zeigt jede einzelne Schneeflocke die Form eines feinen Kristalls.

Keine ist wie die andere. Sie sind wie winzige, gefrorene Sterne.

Es ist Dezember. Menschen sehnen sich nach Licht in dieser dunkelsten Zeit des Jahres, in der in manchen Teilen der Welt die Sonne selten am Himmel zu sehen ist. Das Erdreich scheint zu schlafen und zu träumen. Es wirkt beinahe, als würde es den Atem anhalten. Vor einigen Tagen war Wintersonnenwende. Der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres. Von da an wurde es jeden Tag unmerklich etwas früher hell und ein bisschen später dunkel. Das Weihnachtsfest rückte mit jeder Morgendämmerung näher.

Weihnachten ist immer.

Was für ein seltsamer Gedanke so mitten in der Nacht.
Wie kann denn Weihnachten immer sein?

Die schneebedeckten Bäume und Sträucher wirken in ihrem Schweigen, als würden sie warten, als würde die ganze Erde auf etwas warten.
Aber worauf?
In vielen Kulturen wurde die Geburt des Lichtes lange vor dem Christentum schon gefeiert.
Was also ist vor zweitausend Jahren anders gewesen?

Durch das Fenster kommt ein feiner, weicher Schimmer in den Raum.
Langsam zur Haustür tasten, hinaus in den Vorgarten.
Vom Himmel rieseln  Millionen Schneeflocken zu Boden. Wenn man den Mund öffnet, schweben die zarten Flocken auf die Zunge. Weich und kühl landen sie und verwandeln sich in kleine, kalte Wassertropfen. Sie schmecken anders, als Wasser normalerweise schmeckt. Schnee hat einen eigenen Geschmack, fast nach nichts, und doch nach etwas, das es sonst nicht gibt, fein und ungewöhnlich.

Häuser und Straßen liegen im Dunkeln. Man erkennt nur die weißen Hauben der Dächer. Den Rest verschluckt die Nacht.
Der Schnee glitzert, als hätte er das Sternenlicht eingefangen, als enthielte jede Flocke ein winzig kleines Licht.

– Stille-

In der Lautlosigkeit  wächst ein eigenartiges Gefühl, eine Art Ziehen, so, als wolle das Herz fort mit dem ganzen Menschen, als hätte es Heimweh nach etwas Unbekanntem, nach etwas, das fehlt.

Es wird stärker, schwillt an, bis  im ganzen Körper zu spüren ist.

Es will im Inneren singen. Weinen. Lachen. Alles auf einmal.

Es will heraus strömen, sich überall verteilen bis hinauf zu den Sternen.

Es macht klein und gleichzeitig groß, traurig und gleichzeitig glücklich.

Auf diese Weise eine ganze Weile vor der Tür zu stehen, in den Schneeflockenwirbel sehen, schließlich schneebedeckt, mit kalten Wangen zurück ins Haus zu gehen. Eigenartig neu.
Da sind keine Worte für das seltsame Gefühl dort draußen.

Was war es, das fehlte?
Welche Sehnsucht erfüllte diesen Moment vor der Tür und klingt immer noch nach?

Leise schleicht sich die Erinnerung an die längste und dunkelste Nacht des Jahres in die Gedanken, an die Wintersonnenwende, daran, dass Menschen sich so sehr nach einem Licht sehnen, welches sie in der Tiefe ihres Herzens berühren kann.

Damals, vor zweitausend Jahren, könnte so ein Licht im Wesen der Dinge sichtbar und erlebbar geworden sein. Besonders im Inneren der Menschen.
Eine Art Urknall.

Gedanken wirbeln durcheinander wie Schneeflocken.
So, wie die Natur auf das Licht wartet, so warten die Menschen auf die Geburt des Lichtes in sich selber, und so, wie es in der Natur wiedergeboren wird, kann es auch in ihnen geboren werden, ein leuchtender Stern.

Wieso wiedergeboren?

Wenn es wiedergeboren werden kann, dann muss es ja vorher schon einmal da gewesen sein. Es geht vielleicht nicht nur um dieses eine Mal vor zweitausend Jahren. Aber mit diesem einen Mal hat etwas angefangen, etwas, das vielleicht nicht aufhören wird, ob man es feiert oder nicht.

Ein kleiner Same aus Licht, der in der Winternacht des Herzens Kraft sammelt und wächst.

Könnte dies das Geheimnis von Weihnachten sein?
Jenseits aller religiösen Lehren, Regeln und Dogmen. In Freiheit. Unberührt von menschlicher Kontrolle?
Dass es immer wieder geschehen kann, in jeder Minute?
Immer wieder jetzt?
Könnte Weihnachten immer sein?

© gabriele auth

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Foto: cocoparisienne at Pixabay

Obst geht immer

 

Das kleine Einkaufszentrum liegt in einem wenig beachteten Stadtteil im Norden meiner Heimatstadt. Dort, wo sich alte Zechensiedlungen neben Fünfziger-Jahre-Betonkästen ducken und einzelne Straßenzüge mit ihren pastellfarbigen Altbauten an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg erinnern.
Neben Dönerbuden und Sonnenstudios wird der graue Ruhrpottcharme seit einigen Jahren bereichert durch orientalische Lebensmittelläden. Stets umweht von einem Duft nach Oliven, Minze und etwas, was ich nicht einordnen kann. Fremd, doch vertraut zugleich.
An einigen Ecken behaupten sich zwischen den Miethäusern noch immer die typischen Trinkhallen, die Buden, vor denen knorrige alte Männer die Zeit tot schlagen. Ehemalige Kumpel und Stahlarbeiter. Rauchend. Bier trinkend. Gespräche drehen sich im Kreis um Fußball und das Leben nach dem Arbeitsleben. Der Satz Ich geh ma eben anne Bude kann jeden Zeitraum von zehn  Minuten bis fünf Stunden umfassen.
Mittendrin, am Marktplatz, das Einkaufszentrum. Ein altmodisch solider Gebäudekomplex aus den frühen sechziger Jahren. Sein spröder Sex-Appeal hat nichts gemeinsam mit dem Hochglanz-Shopping-Palast, der in der Innenstadt am Ende der Fußgängerzone lauert und, einem gigantischen Ufo nicht unähnlich, eine unüberschaubare Warenfülle und angesagte Labels präsentiert.
Obwohl es nichts derartig Großartiges darstellt, ist das kleine Einkaufszentrum Anziehungs- und -Treffpunkt für die Bewohner des Stadtteils. Sie kommen, um gesehen zu werden, den neusten Tratsch auszutauschen, zum Kaffeetrinken, Stöbern und natürlich zum Einkaufen. Teenies mit Smartphones, oder den Kopfhörern ihrer MP3-Player im Ohr, treffen sich hier. Stehen meist zu laut lachend bei Mac Donalds, wirken ein bisschen gegen den Strich gebürstet.
Rentner aus dem nahegelegenen Seniorenzentrum sitzen zu zweit oder zu dritt auf den Bänken, beobachten Alle und Alles.
Das „Center Management“ denkt sich regelmäßig Attraktionen aus, denen meist ein altertümlich schlichter Charme anhaftet.
Da laden kantige Oldtimer aus den Siebzigern zum Probesitzen ein. Ein anderes Mal dürfen die Besucher sich an den Scheiben großer Terrarien die Nase platt drücken, wo Reptilien sich zwischen üppig wuchernden Pflanzen verkriechen.
Die meisten Leute versammeln sich bei Mac Donalds und in der modernen Center-Apotheke. Big Mac oder Aspirin braucht immer irgendwer.

Ich komme gerne hierher, lasse mich durch die Ladenstraße treiben, stöbere in Geschäften, deren Sortiment mir fast genauso vertraut ist wie mein Wohnzimmer, weil es sich im Laufe einer Saison nur unwesentlich ändert. Ab und zu sitze ich in dem italienischen Eiscafé und bestelle Cappuccino.
„Mit aufgeschäumter Milch oder mit Sahne“, fragt die Bedienung immer.
„Ein Cappuccino mit Sahne ist strenggenommen kein Cappuccino mehr, es ist einfach ein Kaffee mit Sahne“, erklärte ich ihr damals bei meinem ersten Besuch. Sie lachte.
„Dann können wir den Laden dicht machen“, antwortete sie. „Hier wollen die Leute Sahne und sie schimpfen, wenn sie nur Milchschaum auf ihrem Kaffe finden.
Da lachte ich auch.
Italien ist weit. Zu weit vielleicht.

Vor dem Springbrunnen im Erdgeschoss stehen Kinder wie verzaubert. Offene Münder, leuchtende Augen, erinnern mich daran, dass es eine Zeit im Leben gibt, in der alles ein Wunder sein kann.
Wann genau verlernt man das Staunen, wann nimmt man die Magie im Leben nicht mehr wahr, denke ich, stelle mich zu den Kindern, beobachte das Spiel der farbig angeleuchteten Wasserstrahlen. Die Kleinen hüpfen, lachen, johlen.
„Fall mir da bloß nicht rein!“, rufen die Mütter.
„Nicht auffem Beckenrand laufen.“
„Komm jetzt, die Mama will weiter, du kriegst auch ein Eis“.

Der Springbrunnen hat eine Intervallschaltung. Nachdem abwechselnd mal von links, mal von rechts einige sprudelnde Bögen das blau geflieste Becken überfliegen, entsteht eine abrupte Pause, in der das Wasser unbewegt glitzert.
– Stille –
Die Kinder halten die Luft an. Bis der erste Wasserstrahl mit einem lauten Zischen wieder einsetzt, seinen leuchtenden Bogen über das Becken schlägt. Sofort schwappt eine meterhohe Welle aus Kreischen und Gelächter bis fast hinauf zum Parkdeck.
Ich lächle, kehre dem wässrigen Schauspiel den Rücken, schlendere weiter.
Vor der Parfümerie steht eine beinahe perfide geschminkte Verkäuferin. Sie drückt mir eine Feder in die Hand. Ich schnuppere daran. Der Duft tackert sich mit Wucht auf meine Nasenschleimhaut. Karamellklebrig. Neongrell. Ich lasse die Feder in der Tasche meines Parkas verschwinden, wo sie weiter voll pinker Leidenschaft ihre Duftwolke verströmt.
Ein paar Schritte weiter, im Eingangsbereich der Buchhandlung, stehen die üblichen Tische mit preisreduzierten Mängelexemplaren. Da liegen sie zu Stapeln aufgetürmt. Ich suche jedes Mal die Mängel der einzelnen Bücher, nehme sie in die Hand, blättere, wende, lese. Die Einbände glänzen neu und unversehrt, weder Kratzer, noch Transportspuren stören die Makellosigkeit. Der einzige sichtbare Makel, der jedem Exemplar anhaftet, ist der Stempel auf dem Schnitt, der es unwiderruflich als Mängelexemplar ächtet.
Na ja, Ladenhüter klingt auch nicht netter, denke ich und kaufe einen Krimi. Beim Weitergehen fällt mir ein, dass ich Briefmarken brauche.

Mein Weg führt vorbei an der ehemaligen Hertie-Filiale. Der dreistöckige Gebäudetrakt steht schon ewig leer. Auf den großen Schaufenstern kleben riesige Fotos von lächelnden Frauen, die dynamisch und schick ihre Einkaufstüten schwenken.
Wir bauen für Sie um – Bald noch schöner, noch attraktiver! steht auf den Plakaten. Darunter ein kleiner, unspektakulärer Aushang mit der nüchternen Information
provisionsfrei zu vermieten.
An Hertie erinnert nur der große, geschwungene Schriftzug, der sich wie um Fassung ringend, trotzig rot an die Wand über den Eingangstüren klammert.
Ich staune immer noch, dass so viele deutsche Traditionsfirmen pleite sind. Einst waren sie starke Säulen des Handels, untrennbar mit einem überschäumenden Wirtschaftswunder verknüpft.
Das Wirtschaftswunder hat sich wohl erledigt.
Wie zur Bekräftigung scheint  dieser leer stehende Kasten mir höhnisch ins Gesicht zu lachen. Unmittelbar schleichen sich Bilder des Malers Otto Dix auf meine innere Leinwand.
Lästiges Kopfkino.
Was wohl aus den Mitarbeitern von Hertie geworden ist? Zum Schluss hatten sie selten gelächelt, manchmal mit den Kunden über die drohende Schließung gesprochen. Gekränkt. Noch nicht bereit, zu begreifen, dass man sie an die Wand gefahren hatte. Immer wieder mal schimmerte durch die Bitterkeit die Hoffnung auf ein Wunder. Untermalt von dem fröhlichen Slogan der aus den Lautsprechern dudelte
ZUM GLÜCK GIBT’S HERTIE“.
Ich lasse das entseelte Warenhaus links liegen. Fahre die Rolltreppe hinauf zur Lottoannahmestelle, wo man Briefmarken kaufen kann. Schließe mich der langen Reihe hoffnungsvoller Lottospieler an. Es ist Freitag. Fast alle halten ihren Tippschein in der Hand. Mit beinahe heiligem Ernst. Das potentielle Ticket in ein sorgloses Leben. Über den Köpfen, zum Greifen nah, wabert der Hunger nach Wohlstand. Nach Erlösung aus dem „Zum-Leben-zu-wenig-zum-Sterben-zu-viel-Gefühl“.  Vier Millionen im Jackpot.
Wenn das keine Chance ist …
Vom Backshop gegenüber zieht der Duft von Pflaumenkuchen in meine Nase. Begierig sauge ich ihn ein, bezahle die Briefmarken, schlendere meiner Kuchenlust nach.
Neben dem Bäcker, im Eingangsbereich des Supermarktes, lenke ich  meine Schritte um. Eine Verkaufspyramide aus Obstkisten zieht mich an.
Glänzende Mandarinen. Verheißungsvoll liegen sie vor mir. Noch verlockender, als der  Kuchen, Stück für Stück eingebettet in helle Holzkisten. Duftende Früchte, deren knotige Oberfläche zum Anfassen, zum Auswählen einlädt, einige von ihnen eingehüllt in feines Seidenpapier. In einer Pappkiste daneben liegen Netze mit Clementinen, deutlich preiswerter, aber ich weiß aus Erfahrung, dass das Rot der Netze die Früchte leuchtender erscheinen lässt, als sie sind. Entschlossen wende ich mich den anderen, den netzfreien Kleinoden spanischer Mandarinenplantagen zu.
Aus dem Laden kriechen mir Instrumentalversionen alter Beatles Hits ins Ohr.
Yesterday, all my trouble seemed so far away, singe ich in Gedanken mit.
Neben mir steht eine Frau, klein, ein wenig gebeugt. Kurze graue Haare. Graue Jacke. Ein irgendwie graues Gesicht. Hinter ihr parkt eine dieser Einkaufstaschen auf Rädern. Hackenporsche sagt man hier. Die kleine, graue Frau betrachtet die Preisschilder, greift nach einem Clementinennetz, zieht die Hand wieder zurück, sieht mich nachdenklich an. Sie beobachtet wie ich einzelne Mandarinen aus einer Kiste auswähle und in die Tüte lege.
„Die sind teurer“, sagt sie und seufzt.
Ihre Stimme klingt matt mit einem geduckt anmutenden Unterton. Das Lächeln um ihren Mund ist kaum wahrnehmbar.
„Ja, die sind teurer“, antworte ich, „aber sie sind saftiger und leckerer“.
Die Frau nimmt eine der duftenden Früchte in die Hand, betrachtet sie mit zweifelndem Blick.
„Hinterher ärgert man sich“, sagt sie leise, „wenn man die billigen im Netz genommen hat, und dann schmecken die gar nicht“.
„Ja“, stimme ich zu.
Ein unübersehbar breites Lächeln gibt ihrem Gesicht einen rosigen Schimmer, als sie jetzt Mandarinen in eine Tüte legt.
„Ich nehm dann auch mal die teuren.“
Sie knotet den Plastikbeutel zu. Aus ihrer Stimme verflüchtigt sich das Grau. Sie klingt erleichtert, fast freudig.
„Darauf hab ich jetzt richtig Appetit gekriegt“, sagt sie in mein lächelndes Gesicht.
„Wissen Sie, wegen der Chemotherapie und dem Krebs vertrag‘ ich sowieso fast nichts mehr. Aber Obst geht noch. Obst geht immer.
Da kann ich mir ruhig mal was leisten“.

© gabriele auth

(überarbeiteter Text aus meinem leider nicht mehr lieferbaren Buch  „Mensch lernt von Mensch“)

 

 

Wonderful

T. und ich mit Motor-Rollern unterwegs.  Nacht. Vor uns die Straße durchschneidet die Dunkelheit wie ein breites, nebelgraues Band. Am Rand die Umrisse von Büschen und Bäumen. Das Visier  geöffnet, frischer Nachtwind im Gesicht und am Himmel der Mond. Neben mir das angriffslustige Brummen von T’s Piaggo.
Mein klitzekleines Stückchen Easy Rider.

Minikrimi – Wortspielerei

Ich wurde aufgefordert, einen Mini Krimi (maximal eine Seite) zu schreiben. Dies hier kam dabei heraus, kein Krimi, eher eine Wortspielerei. Ich schwöre, ich hab noch nie, niemals einen Krimi geschrieben und bewundere alle, die es können.
Schritte.
Hinter mir. Im gleichen Takt wie meine eigenen.
Die ganze Zeit.
Warum sind die verdammten Laternen so trübe? Oder liegt das am Nebel? In den Fenstern der Häuser brennt kein Licht. Dunkel ist es. Stockdunkel. Ein seltsames Wort.
Die Schritte hinter mir werden schneller, wenn ich schneller werde.
Mein Atem will ausbrechen. Die Lunge sprengen. Fast schon hechelnd.
Bloß nicht umdrehen. Nicht über die Schulter sehen.
Schritte, die näher kommen.
Schneller, ich muss schneller gehen. Die verfluchten Stiefel haben so hohe Absätze. Ich wollte ja heute unbedingt sexy sein. Mein Atem steht in weißen Wolken in der Winterluft, geht schnell. Viel zu schnell. Wie die Schritte.

Cool bleiben oder losrennen?

Der Typ in der Kneipe, der mich die ganze Zeit so angestarrt hat. Als ich raus ging, streifte seine Hand meinen Rücken.
Dem möchte ich nicht im Dunklen begegnen, dachte ich.
Es ist dunkel. Ob er…?

Ich laufe schneller. Mein Atem keucht. Oh Gott. Ich will nicht… ich renne.

Die fremden Schritte rennen mit. Die Stiefel ausziehen. Auf Strümpfen wäre ich schneller.
Nein.
Ich müsste dazu kurz stehen bleiben.
Auf. Gar. Keinen. Fall.
In meinem Magen wabert eine dunkle amorphe Masse. In meinem Mund ein Geschmack wie schwarzes Silber.
Woher weiß ich wie das schmeckt?
Die Schritte kommen näher.
Da vorne. Die Kreuzung. Auf der anderen Straßenseite sind Geschäfte. Hell erleuchtet. Nur noch über die Straße.
Rennen.
Keuchen.
Rennen.
Keucht es hinter mir auch?
Ist das Atemluft, die kühl auf meinen Nacken trifft?
Die kleinen Härchen richten sich auf.
Endspurt.
Rennen.
Die Straße. Schnell. Schneller. Ich. Das Auto. Ein  Mercedes.
Verdammt. Bremsen kreischen.
Im Fallen geht mein Blick zurück.

Da ist niemand. Niemand.

Ich…

Schwarz.

Jakob’s Christkind

Weil es heute so gut passt, hier noch einmal die Geschichte von Jakob’s Christkind. Diesmal als Video von einer  Lesung, bei der ich zum ersten Mal eine Zugabe geben musste. Eine Freude war das.

Als meine Mutter leuchtete

Ich habe gerade ein wunderbares Buch zu Ende gelesen, in dem es nicht nur, aber auch um den Tod ging. Es erinnerte mich an einen Text aus meinem ersten Buch „Mensch lernt von Mensch“ , den ich hier noch nie gepostet habe, einen Text über meine Mutter:

Als Meine Mutter leuchtete

Die Natur trägt ihr Spätsommerkleid. Das Laub der Bäume schimmert gelb und rot. Dem Leuchten haftet eine fragile Patina der Vergänglichkeit an. Wie ein zögerndes Lächeln huscht die Morgensonne in mein Fenster. Ich sitze mit meinem Morgenkaffee am Küchentisch, beobachte das Streifenmuster aus Licht und Schatten auf der Tischplatte. In den Lichtbahnen treten einige Brotkrümel zu Tage, die im Schatten kaum zu erkennen sind. Draußen zwitschern Vögel Lebensfreude in den Himmel. Sonnentrunken.

Der Kater hat heute Nacht auf den Küchenboden gepinkelt. Er ist nach einem Schlaganfall erblindet. Seitdem gleichen seine Sinne rostigen Messern, stumpf wie seine Krallen. Oft verliert er die Orientierung und läuft im Kreis, die Augen suchend auf den Boden gerichtet. Dann trage ich ihn zum Katzenklo oder in sein Körbchen. Vertraute Fixpunkte in seinem dunklen Universum. Von dort aus kann er sich an Wänden und Möbeln entlang durch die Räume tasten. Hin und wieder rollt er sich nach dem Fressen neben dem Futternapf zusammen und schläft ein. Sein Schnurren hebt sich vor jedem Atemzug zu einem kleinen, pfeifenden Keuchen.

Mir fällt es schwer, Alter und Verfall zu begegnen. Es weckt Mitleid in mir, gleichzeitig eine unbestimmte Wut, Gereiztheit und den Wunsch davonzulaufen. Ich mag dem Prozess des Sterbens nicht begegnen, dem unwillkommenen Ausblick auf die eigene Zukunft. Verweigertes Wissen.
Nicht nur die Kraft der Sinne scheint im Alter abzunehmen, alles verengt sich, wird kraftlos. Nach und nach versiegt der Lebenssaft und der Körper welkt wie die Blätter an den Bäumen. Glühendes Laub. Eigensinnige Schönheit des Sterbens in der Natur. Ein farbenprächtiger letzter Triumph. Der Anblick des Katers lässt mich an meine Mutter denken, an die Zeit, in der ihr Verfall unübersehbar wurde.
Zwei Wochen vor ihrem Tod saß sie in der Sonne auf dem Balkon, eingehüllt in ihren flauschigen Morgenmantel, in dem ihr zerbrechlich gewordener Körper zu verschwinden schien, als wolle er sich in sich selber zurückziehen. Das Blau des Mantels vertiefte die Farbe ihrer Augen. Unwillkürlich fühlte ich mich an kostbares Porzellan erinnert, das von vielen Lagen Seidenpapier umhüllt ist. Ihr Blick war nach Innen gerichtet wie in unbegreifliche Tiefen. Ihr feines, weißes Haar leuchtete in der Sonne. Eine hinfällige Fee.  Nie zuvor hatte ich sie so strahlend gesehen. Und nie wieder danach.

Sie hat mich geboren und genährt, aber ich habe sie nicht wirklich kennengelernt, nie ihr Wesen ergründet. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst kannte, und ich erriet in all den Jahren nicht, wie sie für mich empfand. Meinte sie, mich zu verstehen und mir nahe zu sein, oder fühlte sie die Ferne ebenso wie ich? Vielleicht waren wir einander vertrauter, als wir ahnten oder zugeben wollten. Die Gefühle, die sie in mir weckte, als ich Kind war, sind mir entglitten, verblasst wie alte Fotos von ihr. Ich erinnere mich, dass ich als Erwachsene nicht wollte, dass sie mich berührte. Wir umarmten uns und vollzogen die üblichen Gesten, doch ich ließ nicht zu, dass sie mich im Wesen anrührte, mein Herz in Bewegung versetzte. Ich glaube, sie hat meine Befangenheit geteilt. Doch in diesem zeitlosen Moment auf dem Balkon vor dem Hintergrund des wolkenlosen Frühlingshimmels malte das Licht mit schmerzlicher Intensität die nicht gelebte Schönheit auf das Gesicht meiner Mutter. Ich entdeckte die Reinheit kindlicher Unschuld, ewig und vergänglich zugleich. Wie ein feines Messer drang sie unter meine Oberfläche. Ich sah das Kind in ihr, die erblühende Frau, die behütende Mutter, die Greisin. Ich ahnte, was sie war und mehr noch, was sie hätte sein können.

© gabriele auth

 

 

 

 

Luxusproblem

Die Farbe erinnert mich an dunkles Bienenwachs oder an Waldhonig, eher Ocker als Gelb. Der Duft ist eine Mischung aus Lorbeer und Oliven, auch eine Ahnung von Orient trifft Okzident, ein Hauch von Tausendundeiner Nacht und eine Prise Sommernachtstraum.
Ach, ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, ich liebe diesen Duft. Und ich liebe die Form, ein unregelmäßiger, stabiler Würfel.
Kostbar sieht das aus. Irgendwie auch rau. Minimalistisch.
Ist nicht gerade das Schlichte, das Ursprüngliche oft wertvoller, als es im ersten Moment aussieht? Diese Art von Wert, die sich auf den zweiten Blick offenbart. Aufrichtige Freundschaft. Echte Liebe. Die Schönheit eines frisch gewaschenen oder regennassen Gesichtes. Die ansteckende Fröhlichkeit eines Kinderlachens, ein unscheinbares Fädchen Safran, oder eben dieses unauffällige Stück Seife. Das Letzte seiner Art in meinem Haus.
Anfangs besaß ich fünf von ihnen, hergestellt nach einem 1200 Jahre alten Verfahren in der syrischen Metropole Aleppo, von Hand geschnitten, mit einem Prägestempel versehen, gestapelt und neun Monate bis zur endgültigen Reife getrocknet.
Neun Monate.
Das war damals.
Vor dem Krieg.
Je länger er andauerte, je brutaler er sich ausweitete, umso sparsamer ging ich mit der Seife um. Ich benutzte zwischendurch Olivenseife aus Italien oder Frankreich, cremige, duftende, glatte Stücke mit Lavendel und Zitrone. Doch keine von ihnen konnte mir Lorbeer und tausendundeine Nacht ersetzen.
Soll ich es benutzen, das letzte Stück?
Unschlüssig nehme ich es in die Hand, rieche daran. Werde ich je wieder eine dieser, handgeschöpften Kostbarkeiten in den Händen halten? Ich habe keine Ahnung, wenn ich danach fragen könnte. Hier sitze ich und beklage das Verschwinden einer Seife.
Ein verdammtes Luxusproblem?
Ja.
Aber auch der Untergang einer Welt.
Das Verschwinden einer Kultur.
Aleppo steht düster und zerstört.
Scheherezade hat keine Tränen mehr.
Aleppo schweigt.

Als meine Mutter leuchtete

Heute ist Muttertag, ein Tag genauso gut wie jeder andere, um diese Erinnerung hier zu veröffentlichen:

Die Natur trägt ihr Spätsommerkleid. Das Laub der Bäume schimmert gelb und rot. Dem Leuchten haftet eine fragile Patina der Vergänglichkeit an. Wie ein zögerndes Lächeln huscht die Morgensonne in mein Fenster. Ich sitze mit meinem Kaffee am Küchentisch und beobachte das Streifenmuster aus Licht und Schatten auf der Tischplatte. In den Lichtbahnen treten einige Brotkrümel zu Tage, die im Schatten kaum zu erkennen sind. Draußen zwitschern Vögel ihre Lebensfreude in den Himmel. Sonnentrunken.

Der Kater hat heute Nacht auf den Küchenboden gepinkelt. Er ist nach einem Schlaganfall erblindet. Seitdem gleichen seine Sinne rostigen Messern, stumpf wie seine Krallen. Oft verliert er die Orientierung und läuft im Kreis, die Augen suchend auf den Boden gerichtet. Dann trage ich ihn zum Katzenklo oder in sein Körbchen. Vertraute Fixpunkte in seinem dunklen Universum. Von dort aus kann er sich an Wänden und Möbeln entlang durch die Räume tasten. Hin und wieder rollt er sich nach dem Fressen neben dem Futternapf zusammen und schläft ein. Sein Schnurren hebt sich vor jedem Atemzug zu einem kleinen, pfeifenden Keuchen.
Mir fällt es schwer, Alter und Verfall zu begegnen. Es weckt Mitleid in mir, gleichzeitig eine unbestimmte Wut, Gereiztheit und den Wunsch davonzulaufen. Ich mag dem Prozess des Sterbens nicht begegnen, dem unwillkommenen Ausblick auf die eigene Zukunft. Verweigertes Wissen.
Nicht nur die Kraft der Sinne scheint im Alter abzunehmen, alles verengt sich, wird kraftlos. Nach und nach versiegt der Lebenssaft und der Körper welkt wie die Blätter an den Bäumen. Glühendes Laub. Eigensinnige Schönheit des Sterbens in der Natur. Ein farbenprächtiger letzter Triumph.
Der Anblick des Katers lässt mich an meine Mutter denken, an die Zeit, in der ihr Verfall unübersehbar wurde. Zwei Wochen vor ihrem Tod saß sie in der Sonne auf dem Balkon, eingehüllt in ihren flauschigen Morgenmantel, in dem ihr zerbrechlich gewordener Körper zu verschwinden schien, als wolle er sich in sich selber zurückziehen. Das Blau des Mantels vertiefte die Farbe ihrer Augen. Unwillkürlich fühlte ich mich an kostbares Porzellan erinnert, das von vielen Lagen Seidenpapier umhüllt ist. Ihr Blick war nach Innen gerichtet wie in unbegreifliche Tiefen. Ihr feines, weißes Haar leuchtete in der Sonne. Eine hinfällige Fee.  Nie zuvor hatte ich sie so strahlend gesehen. Und nie wieder danach.
Sie hat mich geboren, genährt, aber ich habe sie nicht wirklich kennengelernt, nie ihr Wesen ergründet. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst kannte und ich erriet in all den Jahren nicht, wie sie für mich empfand. Meinte sie, mich zu verstehen und mir nahe zu sein, oder fühlte sie die Ferne ebenso wie ich?
Vielleicht waren wir einander vertrauter, als wir ahnten oder zugeben wollten. Die Gefühle, die sie in mir weckte, als ich Kind war, sind mir entglitten, verblasst wie die alten Fotos von ihr. Ich erinnere mich, dass ich als Erwachsene nicht wollte, dass sie mich berührte. Wir umarmten uns und vollzogen die üblichen Gesten, doch ich ließ nicht zu, dass sie mich im Wesen anrührte, mein Herz in Bewegung versetzte. Ich vermute, sie hat meine Befangenheit geteilt. Doch in diesem zeitlosen Moment auf dem Balkon vor dem Hintergrund des wolkenlosen Frühlingshimmels malte das Licht mit schmerzlicher Intensität die nicht gelebte Schönheit auf das Gesicht meiner Mutter. Ich entdeckte die Reinheit kindlicher Unschuld, ewig und vergänglich zugleich. Wie ein feines Messer drang sie unter meine Oberfläche. Ich sah das Kind in ihr, die erblühende Frau, die behütende Mutter, die Greisin. Ich ahnte, was sie war und mehr noch, was sie hätte sein können.

aus: „Mensch lernt von Mensch“,  Masou Verlag 2015

Nicht Supergirl oder Das Ende der Verfügbarkeit

Immer wieder raten, was Einer will. Es aus Augen lesen bevor es ausgesprochen ist. Die verdammte Verantwortung spüren für Alles und Jeden. Für jeden Klecks an der Wand, jede Träne und jedes mürrische Zischen im Umkreis von tausend Kilometern. Wer wird sich verantwortlich fühlen, wer das Fenster schließen, wenn der Sturm mich an die Wand drückt, wenn Furcht mein Rückrat fast verdreht? Ist da wer? Im Sturm? Ausser mir? Ich knalle das Fenster selber zu. Stemme mich mit aller Kraft dagegen, begegne dem Tosen. Ich für mich. Verantwortlich. Das Ende der Verfügbarkeit. Everybodies darling is not everybodies friend. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, werde ich da sein, wenn deine Welt aus Mauern besteht, eine offene Tür sein zwischen Wänden aus Stahl, zu dem Raum, in dem du dich selber triffst. Da sein. Mehr nicht. Berührbar, nicht verfügbar.