Am Fenster sitzen und den Schneeflocken zuschauen, wie sie in einem wirbelnden Tanz zur Erde schweben.
Lautlos stupsen sie an die Fensterscheibe, rutschen langsam herunter. Draußen ist alles ist mit einer puderigen Schneedecke überzogen, die Bäume, die Wiesen und das Dach des Gartenhäuschens.
Schnee ist so irdisch wie jede andere Naturerscheinung. Und doch hat er etwas Unirdisches, Magisches in seiner Lautlosigkeit. Er verwischt Wege und Straßen, dämpft alle Klänge, lässt die vertraute Welt neu und unberührt aussehen.
Wenn man Schnee unter einem Mikroskop betrachtet, zeigt jede einzelne Schneeflocke die Form eines feinen Kristalls.
Keine ist wie die andere. Sie sind wie winzige, gefrorene Sterne.
Es ist Dezember. Menschen sehnen sich nach Licht in dieser dunkelsten Zeit des Jahres, in der in manchen Teilen der Welt die Sonne selten am Himmel zu sehen ist. Das Erdreich scheint zu schlafen und zu träumen. Es wirkt beinahe, als würde es den Atem anhalten. Vor einigen Tagen war Wintersonnenwende. Der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres. Von da an wurde es jeden Tag unmerklich etwas früher hell und ein bisschen später dunkel. Das Weihnachtsfest rückte mit jeder Morgendämmerung näher.
Weihnachten ist immer.
Was für ein seltsamer Gedanke so mitten in der Nacht.
Wie kann denn Weihnachten immer sein?
Die schneebedeckten Bäume und Sträucher wirken in ihrem Schweigen, als würden sie warten, als würde die ganze Erde auf etwas warten.
Aber worauf?
In vielen Kulturen wurde die Geburt des Lichtes lange vor dem Christentum schon gefeiert.
Was also ist vor zweitausend Jahren anders gewesen?
Durch das Fenster kommt ein feiner, weicher Schimmer in den Raum.
Langsam zur Haustür tasten, hinaus in den Vorgarten.
Vom Himmel rieseln Millionen Schneeflocken zu Boden. Wenn man den Mund öffnet, schweben die zarten Flocken auf die Zunge. Weich und kühl landen sie und verwandeln sich in kleine, kalte Wassertropfen. Sie schmecken anders, als Wasser normalerweise schmeckt. Schnee hat einen eigenen Geschmack, fast nach nichts, und doch nach etwas, das es sonst nicht gibt, fein und ungewöhnlich.
Häuser und Straßen liegen im Dunkeln. Man erkennt nur die weißen Hauben der Dächer. Den Rest verschluckt die Nacht.
Der Schnee glitzert, als hätte er das Sternenlicht eingefangen, als enthielte jede Flocke ein winzig kleines Licht.
– Stille-
In der Lautlosigkeit wächst ein eigenartiges Gefühl, eine Art Ziehen, so, als wolle das Herz fort mit dem ganzen Menschen, als hätte es Heimweh nach etwas Unbekanntem, nach etwas, das fehlt.
Es wird stärker, schwillt an, bis im ganzen Körper zu spüren ist.
Es will im Inneren singen. Weinen. Lachen. Alles auf einmal.
Es will heraus strömen, sich überall verteilen bis hinauf zu den Sternen.
Es macht klein und gleichzeitig groß, traurig und gleichzeitig glücklich.
Auf diese Weise eine ganze Weile vor der Tür zu stehen, in den Schneeflockenwirbel sehen, schließlich schneebedeckt, mit kalten Wangen zurück ins Haus zu gehen. Eigenartig neu.
Da sind keine Worte für das seltsame Gefühl dort draußen.
Was war es, das fehlte?
Welche Sehnsucht erfüllte diesen Moment vor der Tür und klingt immer noch nach?
Leise schleicht sich die Erinnerung an die längste und dunkelste Nacht des Jahres in die Gedanken, an die Wintersonnenwende, daran, dass Menschen sich so sehr nach einem Licht sehnen, welches sie in der Tiefe ihres Herzens berühren kann.
Damals, vor zweitausend Jahren, könnte so ein Licht im Wesen der Dinge sichtbar und erlebbar geworden sein. Besonders im Inneren der Menschen.
Eine Art Urknall.
Gedanken wirbeln durcheinander wie Schneeflocken.
So, wie die Natur auf das Licht wartet, so warten die Menschen auf die Geburt des Lichtes in sich selber, und so, wie es in der Natur wiedergeboren wird, kann es auch in ihnen geboren werden, ein leuchtender Stern.
Wieso wiedergeboren?
Wenn es wiedergeboren werden kann, dann muss es ja vorher schon einmal da gewesen sein. Es geht vielleicht nicht nur um dieses eine Mal vor zweitausend Jahren. Aber mit diesem einen Mal hat etwas angefangen, etwas, das vielleicht nicht aufhören wird, ob man es feiert oder nicht.
Ein kleiner Same aus Licht, der in der Winternacht des Herzens Kraft sammelt und wächst.
Könnte dies das Geheimnis von Weihnachten sein?
Jenseits aller religiösen Lehren, Regeln und Dogmen. In Freiheit. Unberührt von menschlicher Kontrolle?
Dass es immer wieder geschehen kann, in jeder Minute?
Immer wieder jetzt?
Könnte Weihnachten immer sein?
© gabriele auth
