Traumatage 5

»Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen.
Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will. «
Diese Sätze hat Rainer Maria Rilke an einen jungen Dichter geschrieben. Ihnen gebührt ein besonderer Platz in meinem Leben, weil sie mir durch ein skurriles, schreckliches, trotzdem eigenartig schönes Jahr geholfen haben. Sie begleiten mich immer noch .

Viele  werden sich gut erinnern, wie es war, wie der ganze Wahnsinn begann. Im Januar 2020, fünf Monate nach T’s Rückkehr, brach in China eine Epidemie aus. Eine Infektionskrankheit der Lunge. Sie wurde hervorgerufen durch ein neuartiges Virus, das von der WHO den Namen Covid 19 bekam. Anfangs schien es nur eine von vielen Meldungen in den Nachrichten zu sein. Ich glaube, die Menschen machten sich hier in Deutschland wenig Gedanken darüber. Das gilt jedenfalls für mich. China war weit. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Meine linke Brust fühlte sich irgendwie ungewohnt an. Da war eine Schwellung, die weh tat, wenn ich mit den Fingern darauf drückte. Eine Brustentzündung, dachte ich, gab den Begriff bei Google ein, mit dem Zusatz »Menopause«.
Na bitte, Google wusste Bescheid. Solche Entzündungen treten zwar überwiegend bei stillenden Müttern auf, können aber auch in der Menopause vorkommen. Ich rief die Hausärztin an. Sie empfahl mir, Wickel mit Retterspitz zu machen. Das hatte Google auch vorgeschlagen, also kaufte ich Retterspitz. Die Umschläge hatten eine angenehm kühlende Wirkung, die Schwellung ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken.
Beinahe lautlos schlich sich ein hässliches Gefühl heran. Schlängelte sich in meine Gedanken. Vielleicht war Retterspitz gar nicht die Rettung?
Konnte sich etwas Schlimmeres in der  Brust eingenistet haben? 

Aber …  ich hatte regelmäßig beide Brüste abgetastet … wieso gab es da plötzlich diesen Knubbel?
Es lässt sich nicht leugnen, ich bin nachlässig, was Besuche beim Frauenarzt angeht. Da waren doch nie irgendwelche Auffälligkeiten gewesen, na ja und eine Schwangerschaft war nicht mehr zu erwarten. Ich fühlte mich sicher. Gesund. So what?

Inzwischen war es März geworden. Aus der Epidemie in China hatte sich eine Pandemie entwickelt, die, während ich dies schreibe, die Welt immer noch im Griff hält.
Corona Pandemie.
Manche denken bei dem Wort Corona an das gleichnamige Bier. Mir fällt eher eine Krone ein.
Entspricht das Bild von der Krone, wenn man genau hinsieht, nicht dem Aussehen des Virus?
Eine stachelige Krone.
Dornenkrone?
Es mag verrückt klingen, aber in meiner Fantasie passt das Bild von der Dornenkrone genau zur Entwicklung und zur Situation der Menschen.
»Ecce Homo – Seht ein Mensch«, heißt es in der Bibel.
Pilatus ruft diese Worte einer aufgeregten Menschenmenge zu und zeigt dabei auf den Mann neben sich, Jesus.
»Seht ein Mensch«.
Für alle, die es nicht kennen, in der Situation ging es um eine Entscheidung zwischen Begnadigung und Tod. »Kreuzige ihn«, brüllte der Mob. Kurz darauf drückte man Jesus eine Dornenkrone auf den Kopf. Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld. Ich muss bei dieser Geschichte unwillkürlich an die heutige Medienlandschaft denken, besonders an Vorkommnisse im Social Media, an all die Hasskommentar bei Facebook oder Twitter, oft befeuert von Berichten und Meldungen in Zeitungen und im TV.
Kann man sich ernsthaft die Hände in Unschuld waschen, wenn man einen unschuldigen Menschen verurteilt, nur weil die Masse danach schreit?
Und, wenn man sich gegen das vermeintlich Vorbestimmte stellt, nimmt es dann trotzdem seinen Lauf?
Manchmal kommt es mir vor, als könnten Pilatus und Jesus zwei Teile in mir selber sein, möglicherweise in jedem von uns. Diese Vorstellung würde zu Rilkes Text über Drachen und Prinzessinnen passen. Aber das ist meine persönliche Sicht.
Du siehst das vielleicht ganz anders.  
Wie auch immer, da war dieser Knoten in meiner Brust. Er verursachte ein mulmiges Gefühl in mir, das von Tag zu Tag aufdringlicher wurde.
Konnte ich die Augen noch länger vor der Realität verschließen, während ich fleißig Retterspitzwickel machte?
Okay, ich googelte das brutale Wort.
»B r u s t k r e b s«.
Die Ergebnisse waren beklemmend, egal, ob Erfahrungsberichte oder Bilder. Kein Zweifel, ich brauchte dringend eine fachärztliche Diagnose. Dann würde alles gut sein.

 
foto/ima artist on Pixabay

                         

Traumatage 1

Stell dir vor, das Leben bietet dir die Gelegenheit, ein verschüttetes, ungelöstes Trauma zu erkennen, neu zu fühlen und schließlich loszulassen.

Aber, und das ist der entscheidende Punkt, es wird abscheulich weh tun. Und du kannst scheitern.

Wie reagierst du?

Zögerst du? Willst du dich weiter einrichten im warmen, dunklen Nichtwissen?

Denkst du frei nach Adler: „Lass doch die Toten ihre Toten begraben“.  

Stell dir vor, die Toten begraben ihre Toten nicht. Stattdessen graben sie sich durch dein Herz tief in den Körper und flüstern dir zu: „Lerne, uns zu lieben. Lerne, den Tod zu lieben. Lerne die alte Erschütterung zu umarmen. Schau durch sie hindurch und finde ein verlassenes Kind. Sei behutsam, liebevoll, während du das Trauma  aus deinem Herzen, deiner Brust ziehst und dem Fluss des Lebens übergibst.
Dann reiche Herrn Adler die Hand und richte deine Aufmerksamkeit auf die Zukunft.

Gibt es eine Gottverlassenheit oder nur Menschenverlassenheit und Selbstverlassenheit?

Hängen diese Drei eventuell zusammen? Wenn du dich von allen oder auch nur von einem, für dich wesentlichen Menschen verlassen fühlst, hast du dich dann in Wahrheit selbst verlassen?

Gottverlassenheit.

Gott. Möglicherweise stößt einem dieses Wort bitter auf. Ist Gott ein Hoax, eine Fehlermeldung, mit der Menschen sich seit Jahrtausenden in die Irre führen lassen?

Oder führen sie sich selbst?
Religion, ein Denkfehler, der dem Menschen die Unschuld raubt, ihn abtrennt von sich selbst, vom Bewusst-Sein, von der Erkenntnis des Lebens?
Starr verdorrende Seitenarme des ewigen Flusses?
Religionen lassen ausreichend Wasser, um nicht zu verdursten, doch nicht genug, um den Durst zu stillen. Durst, den es nicht gäbe ohne Religion, ohne unantastbare Gottesidee.
Gott los sein.
Das Leben annehmen in seiner Fülle, in seinem Nichts und Alles.
Vorletzter Satz, des Nazareners am Kreuz:
„Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Oder vielleicht in anderer Übersetzung:
„Mein Gott, wie hast Du mich erleuchtet.“

Schließen diese beiden Übersetzungen einander aus?  
Im Loslassen von Religion und starrer Gottesidee, in der Verlassenheit liegt Erlösung, schwingt am Ende der Satz:
„Es ist vollbracht“.
Ist diese Gottverlassenheit ein Fluch oder vielleicht der Same der Auferstehung?
Wem es leichter fällt, der mag das Wort „Gott“ durch Licht oder Liebe ersetzen.

Was das alles soll?

Am besten, ich fange am Anfang an, oder zumindest an dem Punkt, der gut am Anfang meiner Geschichte stehen kann.
Das war für mich der Moment, als ich in die Finsternis gefallen bin. Ganz unvermittelt. Von einer Sekunde zur anderen.
(c) Gabriele Auth, Juni2021

Foto Jan-Mallander on Pixabay

Schuld

Am 6.8. vor 75. Jahren  fiel die Atombombe auf Hiroshima, besser gesagt, sie wurde geworfen vom US amerikanischen Militär, obwohl Japan bereits Kapitulationsbereitschaft zeigte.

„Das verstehen, das einordnen wollen, ist dasselbe wie in der Kindheit, doch die Taten haben sich unendlich weit davon entfernt. Wie lässt sich Hiroshima begreifen und einordnen, wie Auschwitz, Vietnam, wie Gaza, Syrien, Afghanistan?

Die Suche nach Schuldigen erhöht nicht das Verstehen. Trotzdem schieben Menschen die Schubladen in ihren Köpfen befriedigt zu. Hauptschuld zugeordnet, alles ordentlich etikettiert. Das Leben geht weiter wie gehabt.“

(co) Gabriele Auth

 

Auszug aus einer Kurzgeschichte, veröffentlicht in meinem Buch: „Mensch lernt von Mensch“ bestellbar leider nur noch direkt beim Masou Verlag.

Thad the real

Wer kann sich noch an die Ideale und Idole erinnern, die er mit vierzehn hatte?

Wenn ich es versuche, bewege ich mich in einem seltsam blassbunten Nebel aus Situationen und Gesichtern.  Ich weiß nicht, ob ich Ideale hatte. Meine Idole stammten damals jedenfalls überwiegend aus Büchern,
Fünf Freunde, Pippi Langstrumpf, Huckleberry Finn. Am nächsten war mir Huck Finn, nur dass es ihm schlechter ging als mir. Viel schlechter.
Meine eigene Familie war, ich sag mal, suboptimal.
Huck’s Familie existierte nicht. Da war Niemand.
Er kam damit klar. Irgendwie. Allein das sicherte ihm meine maximale Bewunderung und mir selber später -möglicherweise- jene Reihe liebloser Beziehungen mit Männern, die wie Huck, alle irgendwie damit klar kommen mussten, dass ihnen im Leben etwas Wesentliches fehlte.
Ich war leider nie das fehlende Element.
Welche Idole haben Vierzehnjährige von heute?
Fußballspieler? Popstars? Rapper oder vielleicht Helden aus Computerspielen?
Ich kenne nur einen Vierzehnjährigen, einen Jungen aus der Nachbarschaft.
Thaddeus.
Thad the real, so nennt er sich selber. Wer will mit vierzehn schon Thaddeus heißen? Und ja, auch er ist Einer, der irgendwie klar kommen muss.
Seinen Vater sieht er selten. Manchmal verspricht der ihm, er würde ihn abholen, aber dann kommt er doch nicht. Eigentlich öfter als manchmal.
Als er klein war, liebte er den Baba sehr, bedingungslos gewissermaßen. Jetzt ist er schon groß und hat gelernt, es ist manchmal besser, nicht so sehr zu lieben. Papa gibt ihm Geld, kauft ihm stylische Klamotten und sogar die neuste Playstation. Das findet Thad super. Irgendwie.
Ein paar Mal sind sie zusammen in den Urlaub gefahren, nach Kroatien oder in die Türkei, Papa und er und Papas neue Freundin.  Thad findet sie ganz okay.
Trotzdem hat er auf so einen Urlaub keine Lust mehr. Er bleibt in den Sommerferien inzwischen lieber Zuhause. Sechs Wochen Zeit für Playstation mit den Kumpels, den Bros, wie er sie nennt, im Gruppen-Chat bei Fortnite, sind schwer zu toppen. Klar, seinen Papa findet er zwar „nice“, aber hey, der ist kein Vorbild für ihn.
„Ich will Youtuber, werden“, sagt Thad the real , „ Ein Streamer oder ein krasser Influencer. Whalla!“ Seine braunen Augen leuchten.
„So wie Rezo, der Typ mit den blauen Haaren, der in seinem YouTube Video, Die Zerstörung der CDU,  so richtig Klartext gesprochen hat?“ frage ich.
Er lacht.  „Rezo,  auf jeden Fall ein Ehrenmann.“, sagt er,  „aber, ich weiß nicht, ich will andere Sachen machen.“
Thad’s liebstes Idol ist zur Zeit ein deutscher Rapper mit türkischen Wurzeln, einer, der wahrscheinlich auch sein Leben lang mit irgendetwas klar kommen musste. Ein großes Banner von dessen Crew, den Bela Boyz, hängt an der Wand über Thad  the real’s  Bett. Wenn man vierzehn ist, können solche Banner mächtige Schutzzauber sein, vielleicht mächtiger, als die Traumfänger, die Mütter ihren kleinen Kindern über die Bettchen hängen.

Was wäre, wenn wir weder Idole, noch Ideale bräuchten? Wenn wir nur eine Idee davon brauchen, wer wir sind und wer wir werden können?
Die beste Version unserer selbst.
Influencer für das eigene Leben?
Thad the real hätte das Zeug dazu.
Er ist nicht der Einzige. Zum Glück. Doch sie müssen es wollen, diese Kids in den Whats App und Fortnite Gruppenchats, bei Snapchat, auf Instagram und vor den TV Bildschirmen.
In einer Welt, die ihnen kaum Vorbilder bietet, wo Mütter intensiv auf ihren Smartphones daddeln und Väter verschwunden scheinen, selbst wenn sie manchmal anwesend sind. Wo Erwachsene darüber reden, was richtig ist und es dann oft selber nicht tun.
Was Thaddeus wohl von Greta Thunberg hält? Ich denke, ich sollte ihn  ab und zu zum plaudern auf eine Cola einladen, oder besser ein Malzbier. Thad the real  liebt Malzbier, da ist er nicht anders, als ich mit vierzehn war.
Tut gut geht anscheinend immer.
Verrückt.

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Foto/ Pexels on Pixabay

Juli – Schnipsel aus dem zweiten Teil

Es war früher Morgen. Wolken zogen über den grauen Himmel. Schnell trieb der Wind sie vor sich her. An einer Stelle brach die Sonne durch das Grau. Wie in einer Laterna Magica sah das aus. Der Deutsche Wetterdienst hatte Orkanböen vorhergesagt.
Schön.
Das passte perfekt zu meiner Stimmung. Die zaghafte, noch schüchterne Ruhe des „Alles ist gut“ die immer wieder aufgewirbelt wurde vom Wind des Zweifels. Durchzogen von Wolken der Traurigkeit.
Von Regenschauern aufgepeitscht bis sie am Boden lag in einer schlammigen Verzweiflungspfütze.
Wie kann es, so wie es ist, denn gut sein?
Wie kann das Traurige gut sein, wenn ich es nicht ändern kann?
Die Spannung zwischen ändern wollen und annehmen müssen, zwischen Handeln und Nichthandeln.
Gedanken rasten wie Wolken, flogen durch Gehirnwindungen, prallten aufeinander, verkeilten sich zu Fragen ohne Antworten, wollten nach Außen drängen.
Wohin?
In Worte?
Der Orkan schwoll an. Gedanken fegten in Fetzen über den inneren Himmel, verknoteten sich mit Gefühlen, trieben wieder auseinander, verändert und doch gleich geblieben in ihrer Dunkelheit.
Annehmen streckte seine Fühler aus, Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke leuchteten.
Unerbittlich zart raunte es:
Nimm es wie es ist, du kannst es nicht ändern.
Aber ich will.
Du kannst nicht.
Warum?
Keine Antwort.
WA RUM?
Weil es so ist.
ABER ICH WILL ES ÄNDERN!
Du kannst nicht.
Aber es tut weh.
Weil du dich wehrst.
Aber das muss ich doch. Ich kann doch nicht…
Du musst
NEIN
Nimm es an.
Vielleicht versuche ich es.
Du musst.
Aber…
Jeder muss sein Leben selber leben. Auch die, die dir lieb sind.
Aber…
Besonders die, die dir lieb sind.

Kein Aber?
Okay, Ich versuch’s

-Stille-

Die Sonne gewinnt immer, weil das Licht schneller ist als der Wind.

© gabriele auth

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Foto/Pixabay

Leseprobe zu Juli – What the bird said

 Jetzt

»Sit there, count your fingers.
What else is there to do ?«
(Janis Joplin: Little Girl blue)

 

 

 

Was,
wenn Gott
eine Frau wäre,
Frau wäre,
wäre?

Mit sanft waberndem Echo verhallt die Frage im Nirgendwo. Juli öffnet die Augen. Die geflügelte Frau, vor Sekunden zum Greifen nah, bleibt zurück in ihrer düsteren blauen Welt, letzte Impression eines bizarren Traumes.
Einen Moment weht noch der kühle Atem der Nacht durch den Raum, bevor ihn die Morgensonne vertreibt.
Auf dem Nachttisch steht das Frühstück. Wurst und Käse sehen aus, als ob sie schwitzen. Ein Anblick, der die Übelkeit in Julis Magen verstärkt. Sie trinkt einen Schluck wässerigen Kaffee, schließt die Augen, versucht zurückzugleiten in die Zone zwischen Schlaf und Wachzustand.
Als sie kapituliert, fällt ihr Blick auf die Vorhänge vor dem geöffneten Fenster. Babyblau. Bescheuerte Farbe, denkt sie. Ein Lufthauch bauscht den Stoff auf wie ein Segel, und einen Moment wünscht sie, das Krankenhaus wäre ein Boot, mit voller Takelage unterwegs in Richtung Horizont, auf und davon.
Juli dreht sich auf den Rücken, richtet den Blick zur Zimmerdecke, denkt daran, wie sie als Kind gerne mit ausgebreiteten Armen auf dem Fußboden lag und so lange nach oben starrte, bis ihre Wahrnehmung sich verschob, sich umkehrte und sie nicht mehr auf dem Boden zu liegen schien, sondern sich das kribbelige Gefühl in ihr breitmachte, mit dem Rücken an der Decke zu kleben. Damals war der Perspektivwechsel leicht gewesen. Sie schließt die Augen, streicht mit den Händen über ihr Gesicht, spürt die Knochen unter der Haut, die Augenhöhlen, die Jochbeine, das Kinn. Wann hat ihr Gesicht seine Weichheit verloren? Sie kann sich nicht erinnern. Erinnerung ist ein zu dünnes Eis.
Wie verblasst sie sich fühlt, abgenutzt wie ihr Nachthemd.

Eine Liedzeile kriecht in ihre Gedanken,
it’s feeling near as faded as my jeans.

Das trifft es auf den Punkt. Me And Bobby McGee von Janis Joplin. Als sie das Lied zum ersten Mal hörte, war Janis längst tot, sie selbst vierzehn Jahre alt, und die große Stimme der kleinen Janis fuhr ihr unter die Haut. Sie gab der Melodie des Lebens einen Namen.
Blues.
Janis ist am Blues gestorben. Fast hätte sie es einfach in den Raum gesprochen. Die Zeitungen hatten damals von einer Überdosis Heroin berichtet. Juli ist überzeugt, die Droge war nur ein Symptom. Die Ursache musste eine Überdosis Blues gewesen sein.

Ein krampfartiges Reißen fährt ihr durch Rücken und Unterleib. Sie spürt das Blut aus sich heraussickern, dreht sich auf die Seite, zieht die Beine an die Brust, umschlingt sie mit den Armen, fühlt sich einen Augenblick geborgen. Ein Fötus in der Gebärmutter.
Allmählich ebbt der Schmerz ab, rollt sich zusammen, nimmt lauernd Anlauf für die nächste Attacke.
Rauchen! Juli will rauchen gegen die innere Wundheit, gegen den Blues, gegen alles. Sie kramt Tabak und Feuerzeug aus dem Nachttisch, dreht eine dünne Zigarette und trinkt den letzten lauwarmen Schluck Kaffee. Er schmeckt bitter, ohne stark zu sein.
Sie verzieht das Gesicht, verlässt das Krankenzimmer, geht, fast ohne die Füße anzuheben, in den Aufenthaltsraum, wo sie sich auf einen der gelben Plastikstühle setzt und die Zigarette anzündet. Ein leichtes Schwindelgefühl zwingt sie, die Augen zu schließen. Sie überlässt sich der Musik in ihrem Kopf. Da ist nur die Melodie, And I’ll trade all my tomorrow for one single yesterday. Ihr Körper wiegt sich im Rhythmus des Songs. Es fühlt sich an wie das Schaukeln eines Kinderwagens. Sie will auf keinen Fall in der Klinik bleiben. Nach der Visite würde sie nach Hause fahren.
Aber was dann?
Man müsste einfach die Zeit zurückdrehen können, neu aus dem Mutterschoß kriechen in ein frisches, ungeöffnetes Leben. Ob es das ist, was auch Janis sich gewünscht hätte? Konfetti aus Erinnerungsfetzen trudelt durch Julis Gehirnwindungen und verschmilzt mit dem Lied.
»Na, sind es bei dir auch die Eierstöcke? «
»Was?« Sie schreckt hoch, dreht sich zu der Stimme um.
Neben ihr sitzt eine junge Frau und raucht. Auf dem Boden verglüht Julis Zigarette.
»Oh, sorry«, sagt Juli und tritt die Kippe aus, »muss mir aus der Hand gefallen sein, ich war wohl eingedöst.«
»Zigarette?« Die andere hält ihr die Schachtel hin.
»Danke.«
»Ich bin Elsa«, sagt die Frau.
Elsas Augen haben die Farbe des Himmels nach einem Sommergewitter. Blonde Locken ringeln sich um ein ovales Gesicht. Nett, denkt Juli.
»Juli«, sagt sie, »eigentlich Juliana, aber so nennt mich kaum jemand.«
Elsa streicht sich die Locken aus der Stirn, nickt. »Juli? Wie der Monat?«
»Ja. So hab ich mich selbst als Kind genannt, weil ich Juliana nicht aussprechen konnte. Ist irgendwie hängengeblieben.«
Elsa lächelt.
»Ich wollte dich nicht stören, hatte nicht gesehen, dass du schläfst. Und? Sind es die Eierstöcke?« Sie sieht arglos aus, wie sie da sitzt und mit einer beiläufigen Bewegung die Asche ihrer Zigarette abstreift.
»Nein. Nicht die Eierstöcke.« Juli steht auf, drückt die halb gerauchte Kippe in den Aschenbecher. »Ich muss aufs Zimmer, gleich ist Visite, war nett, dich kennenzulernen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie den Gang entlang, dem schlurfenden Geräusch ihrer Schlappen einen halben Schritt voraus.
War nett, dich kennenzulernen, denkt sie, als sie in ihrem Bett liegt, was für eine dämliche Floskel.

»Ich will nach Hause«, sagt sie bei der Visite.
»Auf eigene Verantwortung, und das frühestens morgen.« Der Arzt nickt der Schwester zu, die eine Notiz auf ihr Klemmbrett schreibt.
Kurz nachdem Ärzte und Schwestern den Raum verlassen haben, gleitet Juli in einen dumpfen Halbschlaf, aus dem sie hochschreckt, als das Mittagessen gebracht wird. Der Geruch des Rotkohls verursacht ihr einen unangenehmen Druck im Magen.

»Schokopudding ist mein Lieblingsnachtisch«, sagt die Bettnachbarin. Ihr Blick heftet sich wie Sekundenkleber auf Julis Pudding. Die Augen sehen durch die Brille aus wie die eines Koi-Karpfens.
Juli hält ihr das Schüsselchen hin. »Hier, nehmen Sie den.«
Die Lippen der Frau verziehen sich zu einem runzeligen Lächeln. Sie greift nach dem Pudding und versenkt den Löffel in der Sahnehaube.
»Die Mahlzeiten sind das Einzige, was die Stunden hier voneinander abgrenzt«, sagt Juli.
Der Puddinglöffel hält einen Moment inne, bevor er im Mund der Patientin verschwindet.

Am Abend zwingt Juli sich dazu, eine Scheibe Brot zu essen, mit Käse, der sich zu vermehren scheint, je länger sie ihn kaut. Sie hasst das Gefühl, wie der fettige Klumpen sich durch ihre Kehle quält, spült mit Tee nach, zieht eine Strickjacke an, nimmt ihren Tabak, schlurft in Richtung Aufenthaltsraum. Die Ärmel ihrer Jacke reichen bis zu den Fingerspitzen. Mit den schmalen, hochgezogenen Schultern und den knochigen Knien sieht sie aus wie ein sehr junges Mädchen. Juli weiß in diesem Moment nicht mehr, wie es sich anfühlt, ein junges Mädchen zu sein.
Der Raum ist leer bis auf Elsa, die am Fenster sitzt, raucht und ihr entgegen lächelt. Juli setzt sich neben sie. Sie spürt ein warmes Flattern im Brustkorb. Wie eine Sternschnuppe. Verglüht, kaum, dass man sie entdeckt hat. Elsa hält ihr die Zigarettenschachtel hin. Die Zigarette fühlt sich glatt und neu an.
»Filterzigaretten haben so was Makelloses«, sagt Juli, »meine selbstgedrehten sehen von Anfang an krumm und benutzt aus.«
Elsa lacht. Ein warmes Lachen, bei dessen Klang Juli sich beinahe gelöst fühlt. Ihr Mund entspannt sich. Sie erwidert das Lachen mit einem Lächeln, das den verhuschten, traurigen Ausdruck aus ihrem Gesicht wischt.
»Ich wollte dir heute Morgen nicht zu nahe treten. Keine Ahnung wieso, aber fast alle Patientinnen haben von ihren Eierstöcken erzählt. Meine Frage war eine Art Verlegenheitsscherz, um ins Gespräch zu kommen.«

Juli sieht in das freundliche Gesicht, merkt verärgert, dass ihre Augen überfließen wollen, versucht, die Tränen mit den Händen zu stoppen.
»Oh Gott«, stammelt Elsa, »kann ich was für dich tun? Ich wusste ja nicht …«
Juli schüttelt den Kopf. Sie reibt mit dem Unterarm über die Augen, eine flüchtige Bewegung, trotzig, fast zornig, als ob sie mehr als nur Tränen wegwischen will, mehr als den Moment, vielleicht mehr als ein Leben.
»Du hast ja keine Ahnung«, sagt sie, »ich könnte dir die Geschichte erzählen, aber sie ist lang, und ich weiß selber nicht mehr genau, wo sie anfängt.«
Elsa gibt ihr ein Taschentuch. »Ich hab die ganze Nacht Zeit.«
Juli putzt die Nase, zerknüllt das Taschentuch in der Faust, senkt den Kopf. Mit den kurzen dunkelblonden Haarfransen ähnelt sie einer zerzausten jungen Amsel. Sie mustert Elsa mit einem abschätzenden Blick aus den Augenwinkeln. Ihre Augen sind graugrün, ein melancholisches Grau mit einem eigensinnigen Grün.
»Ach verdammt, was soll’s, wenn du es echt hören willst. Gibst du mir noch eine von deinen Kippen?«

Wer wäre besser geeignet zum Reden als eine Mitpatientin, eine wie Elsa, die sie danach nie wiedersehen würde?
»Kein Plan. Wo fängt es an? Bei Sven und Eric? Nach der Sache mit Harry? Oder mit meinen Eltern? Ja, warum nicht mit meinen Eltern? Ich fange bei ihnen an. Hör zu, wenn du unbedingt willst.«
Sie zündet die Zigarette an, zieht den Rauch tief in die Lungen, genießt einen Moment den herben Geschmack des Tabaks auf der Zunge und taucht nach innen. In den Raum, in dem ihre Geschichte sich verbirgt.

 

1

»There must be some kind of way out of here
Said the joker to the thief.«
(Bob Dylan)

 

 

Mein Vater war nicht der Held, für den ich ihn hielt. Ich war ungefähr sieben, als ich das kapierte. Mitten in der Nacht weckte mich ein Poltern aus dem Treppenhaus, ich huschte zur Zimmertür, öffnete sie einen Spalt und blinzelte hindurch.
Der Geruch von Zigarettenrauch, Bier und Frikadellen mit Senf stahl sich in den Flur und kroch mir in die Nase, als Vater zur Wohnungstür hereinkam.
»Is was später geworden«, sagte er zu meiner Mutter, die in ihrem verwaschenen gelben Morgenmantel in der Schlafzimmertür stand. Vater tastete sich mit schlurfenden Schritten ins Wohnzimmer. Ich hörte die Sprungfedern des Sofas knarren, als er sich hinsetzte und konnte fast vor mir sehen, wie er da saß, nach vorn gebeugt, mit hängendem Kopf, die Arme schlaff auf den Schenkeln. Ich hatte ihn tausendmal so sitzen sehen, wenn er nach Bier roch.
Mutter ging in die Küche. Ich wusste, dass sie Brote schmierte. In der Stille vermischte sich das Schaben des Brotmessers mit dem Geräusch des Wasserkessels und schwoll an zu einem trostlosen Rhythmus. Sie kochte ihm immer Kaffee, wenn er betrunken war. Als ob eine gute Tasse Kaffee auch das Leben gut machen könnte.
Ich beobachtete, wie sie das Tablett durch den Flur trug. Den Rücken hielt sie stocksteif, als wäre sie in ein Korsett eingeschnürt.
Ich schlich in die Diele, linste durch die angelehnte Wohnzimmertür, rieb mir den Schlaf aus den Augen.
Vaters Anblick ließ sich nicht wegwischen.
Er aß mit unsicherer Hand, den Blick auf den Teller geheftet. Mutter stand vor ihm, sah ihn an, stumm, die Arme verschränkt, die Lippen zusammengepresst, bis es aus ihr herausplatzte.
»Du bist besoffen.«
Sein Gesicht erstarrte. Rot und schief sah es aus. Die Hand stockte mitten im Griff nach der nächsten Wurststulle.
»Dummer Bauerntrampel.«
Er schleuderte den Teller mit den Broten, von denen eines gegen die Wand klatschte. Im Zeitlupentempo rutschte es die Tapete hinunter und zog einen fettigen Leberwurststreifen hinter sich her.
Unter meinen nackten Füßen spürte ich die Kälte des PVC-Bodens. Ich kaute auf der Unterlippe, starrte die Tür an, hörte meine Eltern brüllen, eine millionenfach abgespulte Litanei von Beleidigungen, Vorwürfen und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Ich dachte, die würden nie wieder aufhören. Mein Hals fühlte sich eng an, so, als ob mir ganz langsam die Luft ausginge, immer ein bisschen weniger, bis keine mehr da wäre.

Frierend tappte ich zurück ins Kinderzimmer, wo ich im Bett lag, die kalten Füße aneinander reibend, die Decke über den Kopf gezogen, auf Stille wartend. Ich weinte nicht. Nicht wie damals, als ich ein Kleinkind war und ohne Licht nicht einschlafen wollte. Vater hatte mich geschlagen und das Licht gelöscht. Damals, ja, da lag ich heulend im dunklen Zimmer und starrte in die Schatten. Jetzt war ich schon groß. Ein Leberwurstbrot auf einer Tapete. Warum sollte ich darüber weinen?
Ich spürte, dass unser Familienleben nicht in Ordnung war. Das Gefühl klebte sich an meine Fersen, verfolgte mich durch die Kindheit, ein unverwechselbarer Geruch, der an mir haften blieb, wie sehr ich auch versuchte, ihn abzustreifen. Ich wollte eine Familie, wo man beim Essen ab und zu ein Glas Wein trank. Einfach nur so ein verdammtes, gepflegtes Glas Wein. Ich wollte einen nüchternen Vater. War das zu viel verlangt?Nüchtern war er mein König.
Wenn er getrunken hatte, sah er aus, als schrumpfte er zusammen, saß mit stierem Blick vor dem Fernseher und ließ die Fingernägel gegeneinander klacken.
Klack. Klack. Klack.
Ein erbärmliches Geräusch.

Früher haben Mutter und ich ihn manchmal von der Arbeit abgeholt. Der Weg führte über eine Brücke. Meine Beine waren kurz, die Brücke lang.
Schwindelerregend.
Am anderen Ende sah ich ihn oft schon auftauchen, eine vertraute Gestalt im grauen Mantel. Und ich rannte los. So schnell ich konnte. Über die Brücke, die mich ganz bestimmt  in den Abgrund zerren wollte. Stürzte mich in die Arme meines Vaters.
Wie man sich sicher fühlen kann, obwohl man geschlagen wird?
Schwer zu sagen. Ich hatte mal ein Meerschweinchen. Als es starb, bettete er es in eine Zigarrenkiste, bastelte ein Holzkreuz mit einer Münze im Schnittpunkt der Hölzer und wir begruben es auf unserem Hof.
So ein Vater war er.

Ich wusste, dass er vierundvierzig in den Krieg gezogen war, zur Marine wie sein großer Bruder, von dem nichts übrig war als ein Foto, das auf Omas Anrichte stand. Das, und ein zerknitterter Brief vom Reichskriegsministerium, er sei als Held gestorben. Oma bewahrte das Schreiben sorgfältig in ihrer Bibel auf.
Vater war mit neunzehn nach Sibirien verfrachtet worden. Jedes Jahr zu Weihnachten stieg die Erinnerung in ihm auf, eine unverdauliche Mahlzeit und unverzichtbarer Teil seines Weihnachtsfestes. Es begann am Heiligen Abend in der Kneipe mit dem Morgenbesäufnis unter Männern, das sie Frühschoppen nennen. Zuhause warteten wir ungeduldig und voll Hoffnung, er würde rechtzeitig kommen, um den Baum zu schmücken. Das war sein uneingeschränktes Vorrecht. Ganz gleich, wie viel er getrunken hatte, er hängte penibel, ohne das winzigste Zittern seiner Hand, einen Lamettafaden neben den anderen an die duftenden Zweige.
Wie silberne Vorhänge hingen sie dort aufgereiht.
Für Mutter musste alles Silber sein, die Kugeln, die Christbaumspitze, die Weihnachtsengel und die Vögel mit dem Pinselschwanz, die man an die Äste klemmen konnte. Ich vergötterte die Vögelchen. Sahen sie nicht aus wie verwunschene Geschöpfe, die eines Tages davonflögen? Manchmal träumte ich von ihnen und in meinen Träumen flogen sie.

Es gehörte zum Heilig-Abend-Ritual, dass Vater nach der Bescherung die Weihnachtsgeschichte erzählte. Die Geburt des Christkindes war der kürzere Teil. Danach legte er die Bibel zur Seite und wandte sich dem längeren Teil zu, der Geschichte seiner zweiten Geburt, acht Jahre nach Kriegsende, als er vor der Tür der Mutter gestanden hatte. Die Augen wurden ihm nass, wenn er davon sprach, und manchmal holte er danach die Mundharmonika aus dem Schrank und spielte das Wolgalied.
In dem Haus, in das der Krieg seine Familie verschlagen hatte, einer zum Wohnhaus umfunktionierten Synagoge, wohnte damals auch meine Mutter. Sie hatte sich in den mageren Kriegsheimkehrer verliebt.
»Ach, er war so ein Charmeur« erzählte sie gerne.
Ich glaubte ihr.

Kurz nach meiner Einschulung rief Vater mich ins Wohnzimmer. Es muss ein Sonntag gewesen sein. Ich erinnere mich an den typischen Sonntagsgeruch nach Braten und Gurkensalat, der aus der Küche kam. Vaters Stimme klang wie am Heiligen Abend, feierlich und irgendwie zusammengepresst.
»Komm her, ich will dir etwas zeigen, Juliana.« Er stand am Wohnzimmerschrank. In der Hand hielt er ein Buch. Einen Fotobildband, auf dessen Umschlag ein gelber Stern leuchtete. Seite für Seite blätterte er vor mir um. Unverwandt sah ich auf die Bilder. Ich konnte nicht begreifen, dass die lumpigen Berge, die aussahen wie ein Haufen Altkleider, Menschen sein sollten, ermordete Menschen. Konnte das überhaupt jemand begreifen? Tote Menschen aufgeschichtet wie Lumpen? Ich starrte meinen Vater an.
»Das darf nie wieder passieren, Juli. Merk dir das, niemals wieder.« Es klang knautschig und fremd, als wäre die Zunge zu dick für seinen Mund. Seine Augen blickten mich eindringlich an, wässrig blaue Glasmurmeln mitten im Weiß der Augäpfel.
Ich nickte stumm. Meine Arme und Beine fühlten sich an wie aus Holz, ganz dünn und zerbrechlich wie die Körper der Leute in dem Buch. Sie sahen mich an aus blicklosen Augen, in denen keine Hoffnung lebte. Tu etwas, schienen sie zu rufen. Wie könnte denn ausgerechnet ich jemals den Tod von Menschen verhindern?
Am Abend lag ich im Bett und fürchtete mich, die Augen zu schließen, weil dann die Bilder zurückkamen. Ich hörte Vaters Stimme in meinem Kopf: »Niemals wieder.«
In der nächsten Zeit nahm ich manchmal heimlich das Buch aus dem Schrank. In meinem Bauch kribbelte es, wenn ich es öffnete und mit eiligen Fingern durch die Seiten blätterte. Ich hoffte, das Schreckliche verschwände irgendwann. Doch es blieb unverändert anwesend, auf ewig eingeschlossen in schwarz-weißen Fotos zwischen zwei Buchdeckeln. Wenn ich Mutter danach fragte, versicherte sie, dass man in der Kleinstadt nichts mitbekommen hatte.
Ein einziges Mal unternahm sie einen Ausbruch aus der Ehe. Sie zog mit mir zu ihrer Mutter, die immer noch in der Synagoge wohnte.
Das Gebäude war aufregend anders als jedes andere Haus, das ich kannte. Eine Freitreppe führte hinauf zu der Haustür aus massivem Holz. Schnitzereien hoben sich davon ab, Symbole und Schriftzeichen, die mir fremd und geheimnisvoll vorkamen. Im Inneren wartete die kuppelförmige Eingangshalle. Wenn ich sie betrat, wischte tiefe Stille alles andere zur Seite. Mit angehaltenem Atem sank ich in die Umarmung einer Atmosphäre aus Dämmerlicht, Bedeutsamkeit und der schweigenden Anwesenheit vergangener Leben. So gegenwärtig schien dieser Raum und gleichzeitig wie der unerforschte Teil einer versunkenen Welt.
Am Ende der Halle führte rechts eine Holztreppe hinauf, von der auf jeder Etage Gänge mit vielen Türen abzweigten.
Meine Großmutter wohnte unter dem Dach. Über ihrer Wohnungstür hing ein ausgestopfter Bussard, der sich an einen verstaubten Ast klammerte. Ich hatte nie zuvor etwas gesehen, das so vital wirkte, ohne sich jemals zu rühren. Selbst wenn ich ihn wachsam beobachtete, zeigte er kein Anzeichen einer Bewegung und blickte aus starren Augen ins Leere wie in eine vergessene Zeit.
Aus Omas Küchenfenster stürzte der Blick hinunter auf einen weiträumigen Innenhof. Waschküche, Hühnerstall und ein Schuppen schmiegten sich an eine verwitterte Steinmauer. Dort trafen sich die Kinder zum Spielen. Die großen Mädchen warfen in faszinierendem Tempo drei Bälle gegen die Wand und fingen sie in einem anmutigen Tanz der Hände wieder auf. Ich versuchte, es ihnen nachzumachen, aber immer entglitt mir einer der Bälle und fiel zu Boden.
»Juli, Juli, die schafft es nie«, sang Heike, die Älteste. Die anderen sangen mit.
Ich hasste sie. Alle.

Bei der Oma gefiel es mir jedoch, trotz der herrischen Lehrer in der katholischen Schule und trotz des sonntäglichen Kirchgangs, für den ich früh um fünf aufstehen und fast noch im Halbschlaf die Sonntagskleider anziehen musste. Die Erwachsenen gingen ohne Frühstück in die Messe. Ich bekam Honigmilch, auf der sich eine zarte Haut bildete.
In der Kirche schwebte ein Übelkeit erregender Geruch nach Weihrauch, alten Mauern und feuchten Mänteln.
»Oh Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund«, wiederholte die versammelte Kirchengemeinde jeden Sonntag. Wieder und wieder.
Was war das überhaupt, eine Seele? Wo im Körper war sie zu finden? Und was für eine Krankheit hatte die Seele der Leute? Als ich Mutter und Oma fragte, lachten sie.
»Ach Juli, du Schäfchen«, sagte Oma. »Keiner ist krank, das ist nur ein Gebet, das man aufsagt.«
Ich fand die Erwachsenen komisch. So oft wussten sie keine vernünftige Antwort.
Sie konnten mir auch nicht erklären, warum wir bei der Oma wohnten.
»Es ist eine eben schwierige Zeit«, sagte Mutter nur.
Manchmal lauschte ich den Gesprächen der Erwachsenen, die meine Anwesenheit vergaßen, wenn ich mich schweigend mit meiner Puppe beschäftigte. So erfuhr ich, dass Vater seine Arbeit verloren hatte und wir nicht in unsere Wohnung zurückkonnten, weil die ebenfalls weg war.
Wie konnten ein Zuhause und eine Arbeit einfach so verschwinden? Das verstand ich nicht. Wochen später hörte ich Mutter und Oma darüber reden, dass Vater endlich Arbeit hatte und auch bald eine neue Wohnung finden würde. Warum suchte er eine andere? Warum suchte er nicht nach der alten, verloren gegangenen?
Ich traute mich nicht, danach zu fragen. »Wo wohnt der Papa denn jetzt«, fragte ich stattdessen.
Mutter presste die Lippen zusammen und ging aus dem Zimmer.
Oma nahm mich in den Arm. »Er wohnt jetzt bei seiner Mama.«
»Bei Oma Dutti?«
»Ja.«
»Aber ich wünsch mir, dass er unsere Wohnung findet.«
Oma lachte. »Die findet er ganz bestimmt.« Sie strich mir über den Kopf. Ihre Hände rochen nach Minze und nach etwas anderem, etwas, das ich nicht benennen konnte. Es gehörte zu ihr wie die vielen feinen Falten in ihrem Gesicht und die Butter, die sie mir dick aufs Brot strich. Für Vater mag es ein Glück gewesen sein, dass er bei Oma Dutti untergekommen war, aber mir fehlten seine Geschichten und Lieder.
Ein betrunkener Vater war wie ein gebrochenes Bein. Gar keinen Vater zu haben, fühlte sich an wie ein amputiertes Bein, irreparabel, dauerhaft von Krücken abhängig, halb.

Ein paar Monate später saßen wir endlich wieder vereint beim Frühstück. Unsere neue Wohnung lag in einer dieser typischen Ruhrgebietsstädte, die von Stahl und Kohle lebten. Mir gefiel es da. Wo vor dem Krieg die hochmütigen Häuser der Jahrhundertwende ihre Schornsteine in den Himmel gereckt hatten, deckte die Natur einen grünen Belag über die Brachen. Dort gruben die großen Jungen Löcher, die ausladenden Gräbern ähnelten. Sie legten stockfleckige Matratzen, abgenutzte Teppiche und Kissen hinein und deckten die Gruben mit Brettern ab.
Meine Freundinnen und ich standen daneben und sahen aus aufgerissenen Augen zu, wie die Budenbauer mit Zigaretten und Streichhölzern im Untergrund verschwanden. Sie waren Helden.
»Dürfen wir mit runter?«, wagte ich einmal, zu fragen.
Der Anführer hakte die Daumen in die Hosentaschen, sah uns an, die Brauen finster zusammengezogen und nickte knapp. »Na gut, ausnahmsweise.«
Wir folgten ihm in die Tiefe. Es roch nach Erde und Zigarettenrauch. Stumm saßen wir an kühle Lehmwände gelehnt, die feuchten Hände ineinander verschlungen, ehrfürchtig und voll Verlangen, groß und stark zu sein.
Wenn ich meine Eltern ansah, kam mir das Erwachsensein allerdings weniger erstrebenswert vor. Ihr Kettenkarussell des Streitens und Versöhnens drehte sich wie ein verdammtes Perpetuum Mobile. Vater trank und gab zu viel Geld für Alkohol aus, Geld, das Mutter fehlte, um Lebensmittel einzukaufen. An manchen Tagen briet er dann zum Abendessen altbackenes Brot. Die Brotscheiben saugten sich voll mit dem heißen Öl, wurden goldbraun und dufteten warm und würzig. Gänsebrot nannte er das und sprach nicht darüber, dass es im Küchenschrank weder frisches Brot, noch Margarine, noch einen Brotaufstrich gab. Stattdessen erzählte er eine Geschichte aus seinem Vorrat. Geschichten kosteten kein Geld. Ich kaute und lauschte mit heißen Wangen und fettigen Fingern. Für mich war Gänsebrot ein Festmahl. Für die Eltern war es die letzte Maßnahme, bevor Vater am nächsten Morgen in aller Frühe aufstand und vor der Arbeit die fünf Kilometer zum Haus seiner Mutter lief. Manchmal wachte ich auf und sah aus dem Fenster hinter ihm her. Er ging mit gebeugtem Nacken, die Hände in den Jackentaschen. Oma Dutti gab ihm Geld.
»Ich will nicht, dass das Kind hungern muss«, sagte sie, wenn Mutter und ich sie besuchten. »Das geht doch nicht. Ach herrje, er war hier. Ich habe ihn angefleht, in Gottes Namen mit dem Trinken aufzuhören. Er sagt, er werde sich Mühe geben, aber ich sehe doch, wie er Kopf und Arme hängen lässt. Ich bete für euch. Immerzu.«
Ich ahnte, das Karussell würde nicht anhalten. Es gab nur die Möglichkeit auszusteigen.
Abspringen. Aber wie?
Irgendwann fand ich heraus, dass es winzige Notbuchten gab.

Es war in den Sommerferien, als ich die Stadtbibliothek entdeckte. Sie wurde meine Zuflucht, mein geheimer Wallfahrtsort. Ich pilgerte jede Woche dorthin, kam mit einer prall gefüllten Tasche zurück und saß stundenlang zusammengekauert in einem Sessel in meinem Zimmer. Neben mir einen Bücherstapel, flüchtete ich in die vielen Geschichten, die zwischen Buchdeckeln darauf warteten, von mir entdeckt zu werden. Ich las alles, was mir in die Finger kam, tauchte mit klopfendem Herzen in die Welt meiner neuen Helden ein, kletterte mit Lucy durch den Wandschrank nach Narnia, weinte um Arslan, den Löwen, oder erlebte Abenteuer mit fünf Freunden und ihrem Hund Tim. Manchmal dauerte es mehrere Tage, bis ich wieder auftauchte aus den Geschichten und nach draußen ging. Da saß ich eines Nachmittags hinter dem Haus auf der Treppe, die in die Waschküche führte und sortierte meine Glasmurmeln.
»Komm mal mit runter, Ju«, flüsterte es neben mir. Der Nachbarssohn, ein Jahr älter als ich, setzte sich zu mir.
»Was ist denn los«, flüsterte ich zurück, »und warum flüsterst du?«
»Weiß nich. Komm einfach.«
Neugierig geworden, ging ich mit ihm in die Waschküche. Er schloss die Tür, stellte sich mit verschränkten Armen davor. »Du musst erst ne Frage beantworten. Vorher kommst du hier nich raus.«
Ich lachte. In meinem Bauch krabbelte es wie in einem Ameisenhaufen. »Du spinnst doch.«
»Nee, is mein Ernst. Echt. Hab’s dem Berti versprochen.«
Berti war der coolste von den Jungen, trug rosafarbene Hemden, Jeans mit ausgefranstem Saum und eine Frisur wie Paul McCartney, kinnlang. Unnachahmlich die Kopfbewegung, mit der er die blonden Ponyfransen aus der Stirn schüttelte. Ich mochte ihn und hänselte ihn gerne, weil ich schneller rennen und höher klettern konnte als er.
»Was hast du dem Berti versprochen?«
»Na, dass ich dich dazu krieg, die Frage zu beantworten.«
»Mann, dann frag doch endlich. Überhaupt, warum fragt er nicht selber?«
»Hat sich nich getraut. Er will wissen, ob du mit ihm gehst.«
Ich hielt die Luft an. Es prickelte im Kopf, als ich ausatmete.
Der Nachbarssohn sah mich an wie ein Schlangenbeschwörer, der seine Flöte verloren hat.
»Und? Sag schon. Was is jetzt?«
»Sag ich doch dir nicht.«
»Hmm.« Er zog eine leicht verbogene Zigarette aus der Tasche, zündete sie an. Die konnte man einzeln am Kiosk kaufen. Zehn Pfennig das Stück. Er hielt mir die Kippe hin. Ich paffte.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Weiß nich«, sagte er, »du könntest es auf einen Zettel schreiben.«
Ich dachte an Berti und seine Haare, die längsten, die ich bei einem Jungen je gesehen hatte.
»Okay, ich schreib’s auf, aber dann musst du mich jetzt rauslassen.«
»Und wie kriegt er dann den Zettel?«
»Ich leg ihn unter den dicken Stein auf unserem Hof. Hinten am Baum, wo das Meerschweinchen begraben ist. In einer Stunde.«
»Alles klar.« Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, warf die Kippe auf den Boden und öffnete die Tür. Als ich hinausging, sah er mich an wie einer von diesen Mafia-Typen in Filmen, die meine Eltern sich im Fernseher ansahen. Ich fühlte mich elektrisch geladen. Rannte nach oben in mein Zimmer. Schrieb ja auf ein Blatt aus meinem Deutsch-Heft. Raste zum Meerschweinchenbaum. Deponierte die Botschaft unter dem Stein, lief zurück und setzte mich ans Fenster, den Stein anstarrend, als könnte sich der Zettel darunter in Luft auflösen, wenn ich einen Moment nicht hinsah. Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich konnte es bis in den Kopf spüren.
Endlich kam Berti, blickte sich nach allen Seiten um, griff nach dem Stein, fand die Nachricht, las. Dann äugte er hinauf zum Fenster, wo ich mich hinter der Gardine versteckte und seinen verstohlenen Blick registrierte, obwohl er so tat, als würde er eher zufällig in meine Richtung sehen. Ohne es zu wollen, verzog ich den Mund zu einem breiten Lächeln.
Ich war verknallt. Das Leben leuchtete in Pastelltönen.

Wir gingen ein paar Mal ins Kino, am Sonntagmorgen in die Jugendvorstellungen, saßen Hand in Hand im Halbdunkel. Wenn Winnetou über die Prärie galoppierte, rückten wir dicht zusammen, ließen uns nicht los, obwohl unsere Hände feucht wurden. Ich war Nscho-tschi neben Old Shatterhand. Als Berti versuchte, mich auf den Mund, oder besser gesagt, in den Mund zu küssen, rannte ich weg. Den Rest des Tages spürte ich noch das schlabberige Gefühl seiner Zunge, die sich zwischen meine Lippen gedrängt hatte.
Einen Tag danach sah ich ihn mit einer anderen, einer, die offensichtlich nichts gegen nasse Küsse einzuwenden hatte.
Mehr wütend als unglücklich, verkroch ich mich tagelang in meinem Zimmer. Verliebte Jungen durften mir vorerst gestohlen bleiben. Es reichte, mit ihnen um die Wette zu rennen und zu klettern. Ich ging lieber weiter in die Stadtbücherei und las, als hinge mein Leben davon ab. Irgendwie war es ja auch fast so. Ich meine, ich wäre zwar ohne Bücher nicht krepiert, aber ich hätte die Sauferei meines Vaters nicht mehr ignorieren können, wenn ich mich nicht durch tausende von Buchseiten gefressen hätte. Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, dass die Flucht in Bücher eine Täuschung war, ein fadenscheiniger Mantel gegen die Kälte, die Vaters Sucht ausstrahlte. Ich war vierzehn und zog in den Krieg gegen Johnny Walker und Mariacron. Ich diskutierte, weinte, appellierte. Vater trank, versprach Besserung, trank weiter. Eines Abends schloss ich mich in meinem Zimmer ein und hängte an die Tür einen Zettel. Darauf stand:
Hör auf zu trinken, ich halte das nicht mehr aus!

Vater rüttelte an der Tür. Ich saß auf meinem Bett, die Finger in die Matratze gekrallt, Tränen aus Wut und Verzweiflung liefen mir übers Gesicht. »Ich hab Tabletten!«, schrie ich. »Versprich, dass du aufhörst, sonst schlucke ich die. Alle.«
Er schluchzte. »Du bist doch meine Große, ich will nicht, dass dir was passiert. Ich hör auf, ehrlich, ich hör auf.« Seine Stimme wackelte ein bisschen, aber sie klang auch irgendwie ehrlich, wie damals, als er mir noch Geschichten zum Einschlafen erzählt hatte. Er meinte es ernst. Oh Gott, ganz sicher meinte er es ernst. Würde er sonst weinen? Ich öffnete die Tür und betrat zögernd den Flur, mit geballten Fäusten, um meinen Fingern das Zittern zu verwehren.
Mit verheulten Gesichtern standen wir uns gegenüber. Am anderen Ende, im Schatten der Küchentür, sah ich meine Mutter stehen. Sie wischte sich die Augen mit der Küchenschürze.
Vater hielt ein paar Wochen durch, dann hörte ich wieder das nächtliche Poltern im Treppenhaus.
Deutschland hatte sich von einem Trümmerhaufen in ein Wirtschaftswunderland verwandelt. Der Krieg war lange vorbei, und mein Vater war aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Er hatte Sibirien mitgebracht, den ganzen weiten Weg. Wie eine eiserne Besatzungsmacht in seinem Herzen.
Ich wollte weg. Egal wohin. Bis es so weit war, zählte ich auf die Macht der Bücher. Sie würden mir beim Überleben helfen.

 

 

 

2

»Is it hard to make arrangements with yourself,
When your old enough to repay but young enough to sell?«
(Neil Young)

 

Harry war die erste Gelegenheit, dem nächtlichen Poltern im Treppenhaus zu entkommen. Ich war siebzehn, steckte fast schon im Abitur, er war Maurer, ein paar Jahre älter als ich. Eigentlich hatte ich mich ja in seinen Bruder verliebt. Wie Lancelot sah der aus, trug die braunen Haare lang, und seine blauen Augen leuchteten, wenn wir uns unterhielten oder einfach nur herumalberten. Manchmal sah er mich auf so eine Art an, die mich den Kopf senken ließ, um mein Gesicht hinter den Haaren zu verstecken, weil es heiß und rot wurde.
Irgendwann, viel später, erzählte er mir, er wäre in mich genauso verknallt gewesen und hatte nicht den Mut gehabt, es mir zu sagen.
Harry war anders als sein Bruder, war unverblümt auf mich zugekommen, hatte mich in die Disco oder ins Kino eingeladen, zog mich eines Abends schwungvoll in den Arm, küsste mich, und wir waren ein Paar. Einfach so. Er überrollte mich wie ein verdammter Panzer. Ein Grund, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Oder? Warum ich das nicht tat? Keine Ahnung. Ich dachte wohl, zwischen Männern und Frauen müsse das so sein. Dass er ein Hobbyfotograf war mit einer Spiegelreflexkamera und eigener Dunkelkammer, beeindruckte mich. Er und seine Freunde begeisterten sich für Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Sie kamen mir vor wie eine fremde Spezies, interessant, anders und total erwachsen. Sympathisch war mir keiner von denen. Die gehörten zu den Männern, die nach Thailand fahren, um Muschis von einheimischen Frauen zu fotografieren. Frauen, die immer ein bisschen aussahen wie Schulmädchen.
Die Sache mit Harry hätte während der ersten Wochen zu Ende sein müssen. Vielleicht an dem Sonntag, als wir im Jugendclub miteinander verabredet waren. Ich glaube, ich hatte fast eine Stunde gebraucht, um meine Nägel zu feilen und zu lackieren. Wie Blutstropfen hoben sie sich von meinen Fingern ab. Stolz stand ich vor Harry, fühlte mich kühn und überwältigend erwachsen. Verdammt sexy, fand ich. Sein Blick fiel auf meine Hände. Er zog die Augenbrauen in die Höhe. Seine Stimme senkte sich, als er fast ohne Betonung sagte, »Du siehst aus wie ne Nutte. Geh nach Hause und mach den Nagellack ab, sonst wird das heute nichts mit uns.«
Ich nickte, zu schockiert, um zu antworten, und ging. Was störten ihn meine Nägel? Ich forderte doch auch nicht von ihm, dass er sich seinen geliebten Bart abrasierte. Er war ein Mistkerl. Ich hätte antworten sollen, dass es ohnehin nichts mehr mit uns würde, weder an diesem, noch an einem anderen Tag. Ich hätte ihm verdammtnochmal in sein herrisches Gesicht spucken sollen. Stattdessen schlich ich nach Hause, den Kopf gesenkt, die verheulten Augen hinter den Haaren verborgen, die Fäuste in den Taschen meiner Jeans und tat, was er von mir erwartete. Ich hätte ihn dafür hassen sollen. Stattdessen hasste ich mich selber für meine verdammte Feigheit.
Er sagte immer, er würde mich lieben. Aber konnte ich ihm glauben? Und was empfand ich für ihn? Liebe? Was war denn dann das verwirrende Gefühl, das sein Bruder in mir auslöste? Der hat so schöne Augen und ist so süß, sagte eine leise Stimme in mir. Sei nicht blöd, rief eine andere, Harry liebt dich und du liebst ihn. Tat ich das? Ich hatte keinen Schimmer von irgendwas. Meine Vorbilder stammten aus Filmen, aus Bravo-Fotoromanen oder aus Rock- und Popsongs, in denen alles in dem Satz gipfelte:
Stand by your man
Und ich blieb.

Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag zogen wir zusammen. In eine Dreizimmerwohnung, die ich in vielen Farben gestaltete. Ich pinselte und dekorierte, als könnte man sich ein schönes Leben aufmalen.
»Meine kleine Künstlerin«, sagte Harry und lächelte sein knochiges Lächeln. Eifrig folgte ich dem Beispiel meiner Mutter, stand um sechs Uhr morgens auf, kochte Kaffee und schmierte Wurstbrote. Wenn er von der Arbeit kam, stand das Essen auf dem Tisch.
Anfangs hatten wir oft Sex, wann immer er es wollte. Das erste Mal spürte ich beinahe nichts dabei, aber ich fand es schön, danach Arm in Arm im Bett zu liegen und mich sicher zu fühlen. Auch später empfand ich kaum mehr, hatte meistens keine Lust, tat es aber trotzdem. Es kam mir einfach richtig vor. Ich glaube, Harry gab sich wirklich Mühe. Vielleicht war es gerade das Bemühte, dieses peinlich Ungeschickte, wodurch das kleine Flämmchen meiner Lust schon im Ansatz erstickte. Es endete meist damit, dass ich einen Orgasmus vortäuschte. Natürlich war es auch aufregend und neu. Klar prickelte es auch manchmal. Es gab mir das Gefühl, erwachsen zu sein. Es war Sex, und der gehörte schließlich dazu.
Hatte Mutter mir nicht beigebracht, dass eine gute Frau zur Verfügung steht, sobald der Mann sie braucht? Aber, verdammtnochmal, genau daraus hatte ich entkommen wollen, aus dem Leben meiner Eltern. Ich hatte es hinter mir gelassen. Wieso fühlte sich das mit Harry jetzt oft so falsch an? Vielleicht, weil es keine Liebe ist, flüsterte es in mir. Nur ein Spiel, das ich Liebe nannte? Quatsch. Es musste Liebe sein. Tatsächlich war es ein Spiel mit einem hohen Einsatz, aber davon wusste ich noch nichts. Ein Balancieren auf dem Drahtseil. Bloß nicht nach unten sehen, den Blick stur in die Weite richten, dahin, wo die Realität am Horizont verschwimmt. Harry hatte braune Augen. Wer so braune Augen hatte, musste der Richtige sein. Ab und zu gefiel es mir, mich vor ihm betont langsam auszuziehen, mein langes Kleid vom Halsausschnitt bis zum Saum mit zögernden Bewegungen Knopf um Knopf zu öffnen und fallen zu lassen. Es war ein Tanz, der mich den unwiderstehlichen Rausch einer Macht spüren ließ, die seit Jahrtausenden die Illusion der Frauen ist, einer Macht aus Glas, die an der Muskelkraft von Männern in Millionen Splitter zerschellen kann. Irgendwann nahm ich meine mangelnde Lust als gegeben hin, akzeptierte stillschweigend, dass mit mir etwas nicht zu stimmen schien, und lernte ein Nein zu wagen, wenn Harry vögeln wollte.
Nein, ich habe Kopfschmerzen.
Nein, ich bin müde.
Nein, ich hab meine Tage oder einfach nur nein.
Er besorgte es sich selbst, eine Hand an seinem Schwanz, die andere auf meiner Brust. Minuten, die sich wie Gummi dehnten, bis er endlich mit einem Knurren zur Seite rollte und einschlief. Er hatte eine Art inneren Fickkalender.
»Du hast schon lange nicht mehr mit mir geschlafen, Juliana«, beklagte er sich ständig.
Mir kam es jedoch vor, als wären seit dem letzten Sex erst wenige Stunden vergangen. Mit der Zeit begriff ich, dass Ja-Sagen den Akt verkürzte, lag bewegungslos mit geschlossenen Augen unter ihm, flog davon, kehrte zurück, sobald sein Körper schwer und schlaff auf mir zusammensackte und drehte mich zum Schlafen zur Seite.
»War es für dich auch schön?«, fragte er.
Ich nickte erschöpft und unfähig zu begreifen, wie ihm so etwas gefallen konnte. Wie kann jemand Spaß dabei haben, einen verlassenen Körper zu befummeln? Ob er nie gemerkt hat, dass ich nicht da war, dass das nicht ich war, sondern nur irgendeine stumme Materie? Vielleicht wollte er genau das, eine Kernspaltung, um mich vollständig zu vereinnahmen. Wie verwirrend das alles war. Ich verstand mich selber nicht. In Romanen klang Sex so romantisch, so erfüllend. Etwas fehlte mir, und ich wusste nicht was. Mit einer Freundin wollte ich lieber nicht darüber sprechen. Alle hielten uns für ein Traumpaar.

Nach dem Abitur endete meine verdammte innere Reglosigkeit. Ich hatte mich an der Uni eingeschrieben, tauchte ein in eine unerforschte, prickelnde Welt. Gespräche mit anderen Studenten, nächtelanges Abhängen in verräucherten Zimmern und Wohngemeinschaften, wo wir lachten, rauchten, Platten auflegten oder selbst Musik machten und sangen. Wir philosophierten über Sartre und den Sinn des Lebens im Allgemeinen oder diskutieren über Dutschke und die Radikalisierung der Roten-Armee-Fraktion im Besonderen. Es war berauschend. All das brauste durch mich durch, fegte den Staub aus längst vergessenen oder nie entdeckten Innenräumen, öffnete mir die Augen und verdichtete sich zu der Gewissheit, dass mein Leben mit Harry eine verdammte Einöde war. Meine Güte, das Einzige, was er las, waren Western und die Auto-Motor-Sport!
»Du wirst als Nutte durchgefickt in der Gosse landen«, brüllte er mir nach, als ich mich von ihm trennte. Ich heulte, aber ich rannte weiter die Treppe hinunter. Die dunkelrot lackierten Holzstufen knarrten unter meinen Schritten. Im Rücken spürte ich Harrys Blicke. Ich drehte mich nicht um. Sein Ausruf zischte hinter mir her.
Gosse. Gosse. Gosse.
Die Worte blieben im Treppenhaus zurück, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Sein letzter Satz passte zu ihm, zu seiner Gemeinheit, zu seinen Kumpels und zu den Partys, zu denen er mich mitgenommen hatte, wo nach einer Stunde alle nackt gewesen waren, und jeder mit jedem ins Bett stieg. Peinlich verkrampfte Versuche kühn zu sein und etwas zu praktizieren, das sie freien Sex nannten, das aber in meinen Augen nichts weiter war als gemeinsames Fremdvögeln. Er wollte mir Angst machen, damit ich klein bliebe, aber ich war entschlossen, endlich zu wachsen.

Nach der Trennung nahm ich nur die Möbel mit, die noch aus meinem alten Jugendzimmer stammten. Den Rest überließ ich ihm, zusammen mit Hunderten von Fotos, die er von mir gemacht hatte. Fotos. Immer wieder. Er war keiner, der gemeinsam nach vorn sehen konnte. Er hatte auf mich gesehen und mich eingesaugt.
Eine Zeit lang wohnte ich bei einer Freundin, hörte tagelang Bob Dylan, immer wieder Dont Think Twice, und sang laut und trotzig mit.
Ein einziges bedauerliches Mal besuchte ich Harry in der alten Wohnung. Und zum ersten Mal begriff ich wirklich, wer er war. Er war keiner, der eine Frau, die ihn verlassen will, unangetastet gehen lässt. Er musste seine Markierung hinterlassen, eine, die länger haftet als die Spuren am Körper, ein Tattoo auf der Seele.
Danach stand ich stundenlang unter der Dusche. Tränen, Rotz, Wut und literweise Duschgel verschwanden mit dem Wasser im Abfluss. Ich fühlte mich so schmutzig, dass ich am liebsten mit in die Kanalisation gespült worden wäre. Tief unter der Stadt, wo mich niemand sehen könnte und ich niemandem begegnen müsste.
»Es ist zum Kotzen«, sagte meine Freundin und kochte mir Tee, »du bist so ein verflixtes Schaf. Wie konntest du bloß so naiv sein? Wieso bist du ganz alleine zu dem Arschloch gegangen?« Wir tranken Tee und heulten zusammen. Sie hatte recht, ich war ein Schaf gewesen. Eines war glasklar. Um keinen Preis würde ich dorthin zurückgehen, nicht einmal für einen kurzen Besuch. Und ich wollte mich nie, nie wieder von einem Mann beherrschen lassen.
Ich fand eine Wohnung in der Nachbarstadt. Zwei Zimmer nur für mich, eine Höhle für ein Schaf, das dem Wolf begegnet war. So viele Tränen, die ich nicht weinen konnte, die einfroren zu einer dünnen Eisschicht direkt unter meiner Haut. In mich selbst verkrochen, wartete ich auf Tauwetter und begriff, dass ich keine Ahnung hatte, wer ich war und in meinem neuen Leben werden könnte. Wenn ich das herausfände, eine Markierung in die Welt ritzte, die mir und allen anderen zeigte, so, genau so ist Juli Simoneit, dann würde alles gut. An der Uni schrieb ich mich nicht noch einmal ein. Stattdessen fand ich einen Job in einer kleinen Buchhandlung.
Eines Abends nach Feierabend stand Harry auf dem Parkplatz vor dem Geschäft. Meine Hände klebten vor Schweiß. Ich wollte umkehren. Zurückrennen in den Laden. Verdammt. Er hatte mich entdeckt. Kam auf mich zu. Mein Gesicht fühlte sich an wie Stein. Ich drehte es zu Seite, als ich versuchte, an ihm vorbei zu meinem Auto zu gehen. Er stellte sich mir in den Weg.
»Hallo, Juli.«
Ich sah zu Boden. Meine Bauchmuskeln verkrampften sich.
»Können wir reden.«
»Was gibt es da zu reden?«
»Ich will, dass du zurückkommst. Hörst du, ich brauche dich.« Er griff nach meiner Hand. Seine Finger fühlten sich klamm an. Ekel kroch mir auf die Zunge, füllte bitter meinen Mund, Ekel vor Harry, vor der vergeudeten Zeit mit ihm, vor mir selbst. Ich riss den Arm zur Seite und wischte über die Stelle, an der er mich angefasst hatte.
»Es ist aus, Harry. Als ob ich jemals zurückkommen würde. Tu doch nicht so, als wüsstest du das nicht, als hättest du vergessen, was passiert ist. Hau ab und lass mich verdammtnochmal in Ruhe.«
»Juliana. Bitte. Ich will mich ändern. Dich hat doch immer gestört, dass ich keine Bücher lese. Ich hab jetzt damit angefangen. Ehrlich. Ich les sogar diesen bescheuerten Sartre. Bitte, schmeiß doch nicht alles weg.«
Tränen glänzten in seinen Augen. Verdammt. Dieser Mistkerl traute sich, zu heulen. Billige, unechte Kitschtränen. Vor mir. Ausgerechnet vor mir. Er jammerte doch nur um sein verlorenes Spielzeug.
Jäh ließ er sich auf die Knie fallen. Wieso hatte ich nie gesehen, was für ein jämmerlicher Typ er war? Ich wandte den Blick ab, sah mich um, ob jemand die Szene beobachtete. Das alles fühlte sich schräg an. Surreal. Wie in einem Bild von Magritte. Ein bärtiger Typ und eine dünne Frau festgefroren auf einem Parkplatz. Im Hintergrund ein Mann mit einem Hund. Ich sah zu, wie der Hund sein Bein an einem Auto hob und den Reifen anpinkelte. Mir war kotzübel.
»Verdammt, Harry, mach keinen Mist. Steh auf.«
Er regte sich nicht. Ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, schob ich mich an ihm vorbei und stieg in den alten weißen Kadett. Ich hatte ihn gekauft, weil die rote Schrift am Heck etwas in mir zum Fliegen brachte.
Bound for Casablanca.
Casablanca war weit genug entfernt von meinem Leben.

Als ich den Motor startete, sah ich, dass Harry sich aufrappelte. Am liebsten hätte ich ihn unter den Rädern meines Opels begraben. Hin und zurück. Immer wieder.
Im Autoradio lief Ball And Chain von Janis Joplin. Ich drehte den Regler auf volle Lautstärke, lenkte den Opel durch die Stadt, auf die nächste Autobahnauffahrt und fuhr so lange, bis das Zittern und die Tränen aufhörten.
Harry stand danach noch ein paar Mal vor dem Laden, aber seit dem Kniefall ließ ich mich von einer Kollegin zum Parkplatz begleiten. Er sprach mich nicht mehr an, stand nur da, fuhr sich mit der Hand über den dunklen Kinnbart und beobachtete, wie ich in meinen Wagen stieg. Ich sah nie in seine Richtung, aber ich spürte seinen Blick, der mich abtastete wie die Finger eines U-Bahn-Grabschers. Nach einiger Zeit kündigte ich den Job.

 

 

 

Nachtrag zu Juli – What the bird said

Hier eine kleine Leseprobe, so als Trailer, Teaser, Appetizer und…
Viel Spaß.
Ich überlege mir jetzt, wo ich Lesungen anbieten kann und:
Nach dem Buch ist vor dem Buch.

Leseprobe

 

 

Juli – what the bird said die zweite

Ich hatte ganz vergessen, die Rückseite mit dem Klappentext zu posten. Also hier zu  meinem Roman „Juli what the bird said“ die Cover Rückseite.
Und damit es nicht so kurz wird, noch ein kleiner Schnipsel aus dem Buch:

„Aus Omas Küchenfenster stürzte der Blick hinunter auf einen weiträumigen Innenhof. Waschküche, Hühnerstall und ein Schuppen schmiegten sich an eine verwitterte Steinmauer. Dort trafen sich die Kinder zum Spielen. Die großen Mädchen warfen in faszinierendem Tempo drei Bälle gegen die Wand und fingen sie in einem anmutigen Tanz der Hände wieder auf. Ich versuchte, es ihnen nachzumachen, aber immer entglitt mir einer der Bälle und fiel zu Boden.
»Juli, Juli, die schafft es nie«, sang Heike, die Älteste. Die anderen sangen mit.
Ich hasste sie. Alle.

Bei der Oma gefiel es mir jedoch, trotz der herrischen Lehrer in der katholischen Schule und trotz des sonntäglichen Kirchgangs, für den ich früh um fünf aufstehen und fast noch im Halbschlaf die Sonntagskleider anziehen musste. Die Erwachsenen gingen ohne Frühstück in die Messe. Ich bekam Honigmilch, auf der sich eine zarte Haut bildete.
In der Kirche schwebte ein Übelkeit erregender Geruch nach Weihrauch, alten Mauern und feuchten Mänteln.
»Oh Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund«, wiederholte die versammelte Kirchengemeinde jeden Sonntag. Wieder und wieder.
Was war das überhaupt, eine Seele? Wo im Körper war sie zu finden? Und was für eine Krankheit hatte die Seele der Leute? Als ich Mutter und Oma fragte, lachten sie.
»Ach Juli, du Schäfchen«, sagte Oma. »Keiner ist krank, das ist nur ein Gebet, das man aufsagt.«
Ich fand die Erwachsenen komisch. So oft wussten sie keine vernünftige Antwort.
Sie konnten mir auch nicht erklären, warum wir bei der Oma wohnten.
»Es ist eben eine schwierige Zeit«, sagte Mutter nur.
Manchmal lauschte ich den Gesprächen der Erwachsenen, die meine Anwesenheit vergaßen, wenn ich mich schweigend mit meiner Puppe beschäftigte. So erfuhr ich, dass Vater seine Arbeit verloren hatte und wir nicht in unsere Wohnung zurückkonnten, weil die ebenfalls weg war. Wie konnten ein Zuhause und eine Arbeit einfach so verschwinden? Das verstand ich nicht. Wochen später hörte ich Mutter und Oma darüber reden, dass Vater endlich Arbeit hatte und auch bald eine neue Wohnung finden würde. Warum suchte er eine andere? Warum suchte er nicht nach der alten, verloren gegangenen?
Ich traute mich nicht, danach zu fragen. »Wo wohnt der Papa denn jetzt«, fragte ich stattdessen. Mutter presste die Lippen zusammen und ging aus dem Zimmer.
Oma nahm mich in den Arm. »Er wohnt jetzt bei seiner Mama.«
»Bei Oma Dutti?«
»Ja.«
»Aber ich wünsch mir, dass er unsere Wohnung findet.«
Oma lachte. »Die findet er ganz bestimmt.«
Sie strich mir über den Kopf. Ihre Hände rochen nach Minze und nach etwas anderem, etwas, das ich nicht benennen konnte. Es gehörte zu ihr wie die vielen feinen Falten in ihrem Gesicht und die Butter, die sie mir dick aufs Brot strich. Für Vater mag es ein Glück gewesen sein, dass er bei Oma Dutti untergekommen war, aber mir fehlten seine Geschichten und Lieder. Ein betrunkener Vater war wie ein gebrochenes Bein. Gar keinen Vater zu haben, fühlte sich an wie ein amputiertes Bein, irreparabel, dauerhaft von Krücken abhängig, halb.“

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Juli – what the bird said

Ich muss zugeben, ein bißchen kribbelig bin ich jetzt schon. Vielleicht sogar ein bißchen mehr. Warum?
Weil mein nächstes Buch, mein zweites,  nun wirklich auf dem Weg ist. In ein paar Wochen ist es soweit. Unweigerlich. Und ja, das ist aufregend für mich.
Hier gibt es vorab schonmal das Cover zu sehen.
Und ich möchte erzählen, worüber ich mich auch noch riesig freue.
In der Einleitung und als Untertitel durfte ich ein Lied von der Singer/Songwriterin Katja Werker verwenden. Ihr Album, „Contact Myself“,  habe ich oft beim Schreiben gehört, und abgesehen davon, dass ich es sehr mag, passt es meiner Meinung sehr gut zur Stimmung und zum Inhalt meines  Romans.
Das Lied „What the bird said“ ist definitiv eines meiner Lieblingslieder.

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Also nachm Regenbogen um sechs Uhr abends

Schon als ich diesen Blog gestartet habe, gab es die Rubrik „Rezensionen“.
Sie soll Newcomern und Selfpublishern gewidmet sein, denn, ganz ehrlich, die beliebten Autoren renommierter Verlage haben genug Medienpräsenz, wenigstens die, die mich begeistern.
Jetzt muss man wissen, dass ich Bücher quasi einatme, was  zum Teil an meiner Lesebegeisterung liegt, aber auch daran, dass ich Lesungen veranstalte, zu denen ich Autorinnen und Autoren einlade, um ihre Bücher vorzustellen.
Ich entdecke häufig Bücher, die mich unterhalten und mir gefallen, aber es ist eine Seltenheit, dass mich eines wirklich berührt und begeistert. Also so rundum begeistert, Idee, Schreibstil, Protagonisten.   Das vorletzte Werk, auf welches dies zutraf, war von Haruki Murakami. Weder Newcomer, noch Selfpublisher.
Aber okay, ich merke, ich rede zu viel.  Also kommen wir zum Kern der Sache. Das letzte Buch, das ich gelesen habe, erfüllt für mich alle Voraussetzungen, um einen Blogbeitrag darüber zu schreiben. Man ahnt es vielleicht schon, es heißt:
Also nachm Regenbogen um sechs Uhr abends ( von Victoria Suffrage)
Es handelt von Paul,  seiner geistig behinderten Tochter Ela, seiner Katze Nuschi, von Alex, seinem jungen Betreuer vom Pflegedienst,  und es handelt von Lissy, Pauls Frau, die zehn Jahre älter war als er und gestorben ist. Paul ist achtundsiebzig, vergisst oft Dinge und ärgert sich über seine schwindenden Kräfte.
Die Autorin, Victoria Suffrage nimmt uns mit in Pauls Kopf, lässt uns teilhaben an seiner Zwiesprache mit sich selbst und mit seiner Lissy, die ihn liebevoll Füchschen nennt.
Wie man hautnah all seine Gedanken und Sorgen um Ela miterlebt,  um die Anfeindungen der Nachbarn, denen Elas Geschrei auf die Nerven geht und um die verpassten Möglichkeiten der vergangenen Jahre, das entfaltet einen langsamen Sog, der einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Dabei  entwickelt sich die Geschichte  schließlich zu einem Road-Movie mit überaschenden Wendungen. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, in Echtzeit dabei zu sein, in die Gefühlswelt und Wahrnehmungen des Protagonisten einzutauchen, ebenso wie in seine Irrtümer und Fehleinschätzungen.
Ein wunderbares kleines Buch mit großer Wirkung. Und nachhaltig.
Ich möchte nicht spoilern, also teile ich nur noch einige Auszüge aus dem Text.
„Eine fromme Frau war sie, meine Mutter. Sie hat morgens schon gebetet, dass es auch wieder Abend werde, und Stein und Bein geschworen, dass es ohne ihr Gebet schiefgegangen wäre. So wie mit meinem Vater, der aus dem Krieg nicht wiedergekommen ist. Dass er in Frankreich geblieben ist, weil er eine andere Frau kennengelernt hatte, habe ich erst nach ihrem Tod erfahren. Da war der Vater auch schon gestorben. Als ich ihr meine Lissy vorstellte, da hat sie sich bekreuzigt und drei Tage ins Schlafzimmer eingeschlossen. Und zur Hochzeit kam sie erst gar nicht. Bei der Lissy und dem Alter, da hat sie immer gewusst, was die Leute reden werden. Das Geschwätz hinterher, weil sie nicht zur Hochzeit kam, hat sie nicht gestört.“

Diese Nächte mit Ela, immer ihr Schreien, immer die Besorgnis, dass gleich wieder ein Nachbar ankommt – ich kann nicht mehr. Und in meinem Kopf wird es auch komischer. Ich habe mir ja vorgestellt, dass man es nicht merkt, wenn man wunderlich wird. Ist aber nicht so. Vielleicht hat Alex recht und ich sollte mit ihm in die Kneipe gehen. Aber selbst das wird ein Trauerspiel werden. ich brauche fünf Minuten, um ein Bier zu trinken und danach fünfzehn Minuten, bis ich es zum Klo geschafft habe. Und wenn ich das Pinkelbecken erreicht habe, tja, ist auch nicht die Moldau, die ich dann rauschen höre. Wenn nicht gerade die Schallplatte hängt.“

Ich schaue Alex hinterher, wie er zur Wohnungstür geht. Wie schnell er ist. Kurz darauf höre ich seine Schritte im Treppenhaus. er kann ruhig laut sein, bei ihm traut sich keiner, zu schimpfen und gemein zu sein. Seine Geschichte mit der Frau Schmerle lässt mich nicht los. Ich weiß nicht, ob ich allein sterben will oder nicht. Lissy ist ja nicht mehr ganz da.  Bei ihr wollte ich sein, als es ihr schlecht ging. Aber ich wollte nicht, dass sie geht. „Nachm Regenbogen, Paul. Nachm Regenbogen umd sechs Uhr abends.“ Das waren ihre letzten Worte. Danach schwieg sie beinahe zwei Tage. Ich erzählte ihr, streichelte sie. Und fragte sie wegen Ela. Bestimmt kann ich allein sterben, aber ich kann nicht allein zum Regenbogen gehe.“

Also nachm Regenbogen um sechs Uhr abends