Was, wenn Gott eine Frau wäre?
Juli öffnet die Augen. Der Satz verweht zu einem sanft wabernden Echo und die Vogelfrau, die vor Sekunden noch real zu sein schien, bleibt zurück in ihrer blauen Welt, letzte Impression eines bizarren Traumes.
Die ersten Strahlen der Morgensonne vertreiben den kühlen Atem der Nacht.
Auf dem Nachttisch steht das Frühstück.
Wurst und Käse sehen aus, als ob sie schwitzen. Der Anblick verstärkt die Übelkeit in Julis Magen. Sie trinkt einen Schluck von dem dünnen Kaffee, schließt die Augen, versucht zurückzugleiten in die Zone zwischen Schlaf und Wachzustand.
Als sie kapituliert, fällt ihr Blick auf die Vorhänge vor dem halb geöffneten Fenster. Babyblau. Bescheuerte Farbe, denkt sie.
Ein Lufthauch bauscht den Stoff auf wie ein Segel. Einen Moment stellt sie sich vor, das Krankenhaus wäre ein Boot, mit voller Takelage auf dem Weg in Richtung Horizont, auf und davon.
Juli dreht sich auf den Rücken, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet. Sie denkt daran, wie sie als Kind oft auf dem Boden lag und solange nach oben starrte, bis sie das kribbelige Gefühl hatte, mit dem Rücken an der Decke zu kleben. Damals war der Perspektivwechsel leicht gewesen. Sie schließt die Augen, streicht mit den Händen über ihr Gesicht, spürt die Knochen unter der Haut, die Augenhöhlen, die Jochbeine, das Kinn.
Wie verwischt sie sich fühlt, abgenutzt wie ihr Nachthemd.
Eine Liedzeile kriecht in ihre Gedanken,
it’s feeling near as faded as my jeans.
Das trifft es auf den Punkt. Me and Bobby McGee von Janis Joplin. Als sie das Lied zum ersten Mal hörte, war Janis längst tot. Juli war vierzehn gewesen, und die große Stimme der kleinen Janis fuhr ihr unter die Haut. Sie gab der Melodie des Lebens einen Namen.
Blues.
Janis ist am Blues gestorben. Fast hätte sie es laut in den Raum gesprochen. Die Zeitungen hatten damals von einer Überdosis Heroin berichtet. Aber Juli ist überzeugt, dass die Droge nur ein Symptom war. Die Ursache musste eine Überdosis Blues gewesen sein.
Ein krampfartiger Schmerz fährt ihr durch Rücken und Unterleib. Sie spürt das Blut aus sich heraussickern, dreht sich auf die Seite, zieht die Beine an die Brust, umschlingt sie mit den Armen und fühlt sich einen Augenblick geborgen wie ein Fötus in der Gebärmutter.
Langsam ebbt der Schmerz ab. Zurück bleiben ein unangenehmes Ziehen und das drängende Bedürfnis zu rauchen. Juli kramt Tabak und Feuerzeug aus dem Nachttisch und dreht eine dünne Zigarette. Der letzte lauwarme Schluck Kaffee aus ihrer Tasse schmeckt bitter ohne stark zu sein.
Sie verzieht das Gesicht, verlässt das Krankenzimmer, geht, fast ohne die Füße anzuheben, in den Aufenthaltsraum, wo sie sich auf einen der blauen Plastikstühle setzt und die Zigarette anzündet. Ein leichter Schwindel zwingt sie, die Augen zu schließen. Sie überlässt sich der Musik in ihrem Kopf. Da ist nur die Melodie, And I’ll trade all my tomorrow for one single yesterday. Sie will auf keinen Fall in der Klinik bleiben. Nach der Visite würde sie nach Hause fahren.
Ihr Körper wiegt sich im Rhythmus der inneren Musik. Es fühlt sich an wie das Schaukeln eines Kinderwagens. Einfach die Zeit zurückdrehen, neu aus dem Mutterschoß kriechen in ein frisches, ungeöffnetes Leben. Ob auch Janis sich das gewünscht hätte?

So eine Geschichte am Morgen, unter die Haut gehend… Danke dafür… (Ich glaube, Gott hat kein Geschlecht, er ist alles.)
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Ja, Gott hat am ehesten alle Geschlechter. Aber für einen etwas traurigen Frauenroman fand ich es war ein guter Einstiegssatz. 😉
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Was soll ich noch sagen. Wo alles schon gesagt ist. Julie ist großartig.
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noch mal danke danke danke und nächstes mal ohne koi habitus 😉
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