Ihr Körper wiegt sich im Rhythmus der inneren Musik. Es fühlt sich an wie das Schaukeln eines Kinderwagens. Einfach die Zeit zurückdrehen, neu aus dem Mutterschoß kriechen in ein frisches, ungeöffnetes Leben. Ob auch Janis sich das gewünscht hätte?
Konfetti aus Erinnerungsfetzen trudelt durch Julis Gehirnwindungen und vermischt sich mit dem Lied.
„Na, sind es bei dir auch die Eierstöcke?“
„Was?“
Sie fährt herum zu der Stimme. Neben ihr sitzt eine junge Frau und raucht. Auf dem Boden verglüht eine Zigarette.
„Sorry“, sagt Juli und tritt die Kippe aus, „muss mir aus der Hand gefallen sein, ich war wohl eingedöst“.
„Zigarette?“ Die andere hält ihr die Schachtel hin.
„Danke.“
„Ich bin Elsa“, sagt die Frau.
Ihre Augen haben die Farbe des Himmels nach einem Sommergewitter. Blonde Locken ringeln sich um ein ovales Gesicht. Nett, denkt Juli.
„Ich bin Juli“, sagt sie, „eigentlich Juliana, aber so nennt mich kaum jemand.“
Elsa streicht sich die Locken aus der Stirn, nickt. „Juli, wie der Monat?“
„Ja, so hab ich mich als Kind genannt, weil ich Juliana nicht aussprechen konnte. Ist irgendwie hängen geblieben.“
Elsa lächelt.
„Ich wollte dich nicht stören, hatte nicht gesehen, dass du schläfst. Und? Sind es die Eierstöcke?“
Sie sieht arglos aus, wie sie da sitzt und mit einer beiläufigen Bewegung die Asche ihrer Zigarette abstreift.
„Nein.“
Juli steht auf und drückt die halb gerauchte Kippe in den Aschenbecher.
„Ich muss aufs Zimmer, gleich ist Visite, war nett, dich kennenzulernen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie den Gang entlang, dem schlurfenden Geräusch ihrer Schlappen immer einen halben Schritt voraus.
War nett, dich kennenzulernen, denkt sie, als sie in ihrem Bett liegt, was für ein Bullshit.
„Ich will nach Hause“, sagt sie während der Visite.
„Auf eigene Verantwortung, und das frühestens morgen“, antwortet der Arzt und nickt der Schwester zu, die eine Notiz auf ihr Klemmbrett schreibt.
Kurz nachdem Ärzte und Schwestern den Raum verlassen haben, gleitet Juli in einen dumpfen Halbschlaf, aus dem sie hochschreckt, als das Mittagessen gebracht wird. Der Geruch des Rotkohls verursacht einen unangenehmen Druck in ihrem Magen.
„Schokopudding ist mein Lieblingsnachtisch“ sagt die Bettnachbarin. Ihr Blick heftet sich wie Sekundenkleber auf Julis Pudding. Die Augen sehen durch die Brille aus wie die Augen eines Koi-Karpfen.
Juli hält ihr das Schüsselchen hin.
„Hier, nehmen Sie den.“
Die Lippen der Frau verziehen sich zu einem runzeligen Lächeln. Sie greift nach dem Pudding und senkt den Löffel in die Sahnehaube.
„Die Mahlzeiten sind das Einzige, was die Stunden hier voneinander abgrenzt“, sagt Juli.
Der Puddinglöffel hält einen Moment inne, bevor er im Mund der Patientin verschwindet.
Am Abend überwindet sich Juli, eine Scheibe Brot zu essen, mit Käse, der mehr zu werden scheint, je länger sie ihn kaut. Sie spült mit Tee nach, nimmt ihren Tabak und schlurft in den Aufenthaltsraum. Der Raum ist leer, bis auf Elsa, die am Fenster sitzt, raucht und ihr entgegen lächelt. Juli setzt sich neben sie. Sie spürt ein warmes Flattern im Brustkorb.
Wie eine Sternschnuppe. Verglüht, kaum, dass man sie entdeckt hat.