Notfallknopf – Unfalltagebuch 1

Die Unwägbarkeit der Freiheit springt mich von hinten an, krallt sich in meinem Nacken fest und kreischt mir ins Ohr:
„Du bist total gefährdet hier, jedem dummen Zufall hilflos ausgeliefert. Und es gibt keinen Knopf, um die Schwester zu rufen.“ Meine Gehirnwindungen bibbern, als das Gekreisch in ein hysterisches, irgendwie irres Kichern übergeht.
Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht.
„Verpiss dich“, flüstere ich. Es fühlt sich weniger energisch an, als es klingt.
„Was?“ fragt T.
„Ach nichts“ sage ich.
Wir stehen auf dem Gehweg vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Die Autos auf der Straße machen mich nervös. Ich drehe mich um und sehe zurück auf die schmucklose Glastür. Meine Füße wollen sich nicht so recht in Bewegung setzen. Verdammte Feiglinge. Schließlich ist mit ihnen alles in Ordnung. Es ist mein Arm, genauer gesagt meine rechte Schulter, die wie eine pubertierende Magersüchtige hyperventiliert und ängstliche Signale an mein Gehirn sendet. S.O.S. ich bin verletzt. S.O.S. das hier geht gar nicht. Ich kann das nicht.

Okay, es stimmt ja, ich habe keinen Knopf mehr, um die Schwester zu rufen. Zwei Wochen war ich im Krankenhaus, rundum sicher, Tag und Nacht überwacht. Ich hatte mir gewünscht nach Hause zu gehen, aber ich hatte mir das irgendwie anders vorgestellt. Ich wollte doch nicht einfach so vor die Tür gestellt werden, mit einer Fixiermanschette um Schulter, Arm und Taille und einem Arztbericht für den Hausarzt in der Tasche. Ich wollte den Notfallknopf mitnehmen.
Die gewohnte  Freiheit fühlt sich fremd und gefährlich an, wenn man verletzt ist.            Verdammter Drecksunfall. Mir läuft eine Träne übers Gesicht, hatte nicht mal gemerkt, dass ich angefangen hab zu heulen.
„Komm, ich stehe direkt nebenan auf dem Parkplatz“, sagt T und nimmt meine Hand. Es fühlt sich gut und sicher an. Ich beschließe, dass T mein Übergangs-Ersatz-Notfallknopf ist und setze mich in Bewegung.
Wie bin ich bloß hier gestrandet?
Ich wollte doch nur schnell zur Bank und dann einkaufen. Ich hatte nicht mal das verdammte Notebook ausgeschaltet. Ich sehe es  vor mir wie in einem Film, mich selbst an diesem sonnigen Dienstag vor zwei Wochen.

verzockt

Wohin gehen wir,
wenn es dunkel wird?
Wenn Tag und Nacht
sich nicht mehr trennen
in Deutschland
in Europa
in der Welt?

Ob dann Mc Donalds
noch geöffnet hat?
Und werden wir
in der Kälte stehen
und ewig haltbare
Burger kauen,
wiederkäuen?

Verloren im Labyrinth
der kalten Zahlen
der kalkulierten Freundlichkeit
der freudlosen Regelwerke?

Sonne ist in Wahrheit
das Licht, das zwischen
Menschen leuchtet, die
sich begegnen
mit Achtung
mit Verstehen
mit Freundschaft

Liebe

Wohin gehen wir,
wenn wir die Sonne
verzockt haben?
Wenn Tag und Nacht
sich nicht mehr trennen
in Deutschland
in Europa
in der Welt?

müde

Müde schleicht,
müde erreicht
langsam das Ziel.

Müde gelingt,
müde gewinnt
manchmal das Spiel.

Müde erlebt,
müde verwebt,
Liebe mit Licht.

Müde steht auf,
ändert den Lauf,
wandelt die Welt.

Müde erwacht,
leuchtet und lacht
ins Leben gestellt.

Federling

Es ist halb sieben, als ich aufwache. Der Wecker hat noch nicht geklingelt. Es ist still. Kein Tschilpen. Na ja, gestern abend war es spät. Ich gehe ins Badezimmer. Als ich die Tür öffne, wird er nicht wach.
„Aufwachen, Piepmatz“, sage ich und habe ein ganz mieses Gefühl. Er müsste eigentlich wachwerden. Vorsichtig linse ich durch das Tuch auf dem Käfig. Ich sehe keine vertraute, plustrige Spatzenkugel auf der Stange. Vielleicht sitzt er ja im Heu. Eigentlich weiß ich es, aber ich will es nicht wissen.
Ich nehme das Tuch vom Käfig. Er liegt auf dem Boden im Heu, so ganz klein und unplustrig. Regungslos. Ein Federling, der fortgeflogen ist.
„Er ist tot“, schreie ich und trage den Käfig ins Schlafzimmer. „Er ist verdammtnochmal tot T. Wieso? Das kann gar nicht sein.“
T sagt, dass er dasselbe miese Gefühl beim aufwachen hatte,als er kein Tschilpen hörte.
Ich nehme den Kleinen Spatzen behutsam in meine Hand, als ob es nicht längst egal wäre, als ob noch etwas kaputt gehen könnte. Er fühlt sich fast an wie immer. Er ist in meiner Handhöhle geborgen, aber er ist nicht da.
Heulend sitze ich auf dem Boden neben dem Käfig, eine Ewigkeit, den toten Federling in der Hand. Ich heule und spreche mit ihm, mit T, mit dem Universum, mit mir selbst: „Aber, warum?“
T versucht mich zu trösten. Ich bin untröstlich. Irgendwann, hundert Stunden später, bette ich den Federling in ein Nest aus frischem Heu und lege es in einen Schuhkarton. Darin liegt er bis zum Abend. Als T von der Arbeit kommt, begraben wir ihn mit dem Heu unter einem Ahornbaum hinter dem kleinen Reitplatz. Ich halte das Nest in den Händen, sehe den kleinen Körper mit den braungrauen Federn noch ein Mal an und weine. Diese Woche wollten wir ihn fliegen lassen.

Es gibt unzählige Spatzen. Der Federling ist nur einer von ihnen. Aber für mich ist es genau so, wie es im Buch „Der kleine Prinz“ steht. Wenn du dir ein Wesen, das nur eines unter vielen ist, vertraut machst, wenn du dich auf dieses eine einlässt, dann wird es besonders für dich. Es ist nicht länger ein Spatz unter vielen, sondern der Eine, mit dem du vertraut bist.
Dann tschilpt er nicht mehr wie alle Spatzen, sondern alle tschilpen wie er. Und du hörst immer ihn.

Bunt: für T, Paul Wallfisch, Gina, die Jungs von Reichtum Plakat Erde und den Mann mit dem gelben Hut

Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.

Sommerblau summen Worte
zwischen dir und mir
und dem Mann mit dem
großen gelben Hut.
Worte wie Junikäfer,
helle Glühwürmchen
Silben in blau.

Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.

Zigaretten rotglühend
und weißer Rauch,
der zum Himmel steigt.
Lust auf Musik, auf
laute wie leise Töne,
verbindet uns hier
sonnengelbfroh.

Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.

Weiß funkelnder
Klang der Gitarre,
Erdbraun der Bass,
gelbgrün getupfter,
Schlagzeug-sound
Umarmen ein Keyboard
schwarz, rot und weiß

Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.

Die violette Stimme,
manchmal rot-orange
und der Farbenrausch
von Rotwein bis Whisky,
aber trunken bin ich
von Wasser, Musik
Freundschaft und dir.
Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.

Nur ein Konzert
nur Klang und Gefühl
und Lachen und Reden
und tanzen, ja tanzen
alles findet sich
hält sich und löst sich
bunt wie das Leben.

Golden leuchtet das Bier
Groß sind die Gläser,
tiefblau der Himmel
so tintenblau.
© gabriele auth

Spatzentage 4

Ich öffne die Augen. Zwanzig nach sechs. Ich bin von der Stille wach geworden. Ich hab keinen Wecker gehört. Ist ja okay, wenn man frei hat. Aber ich höre auch kein Tschilpen aus dem Bad, und das treibt mich nervös aus dem Bett . Für alle, die sich wundern, warum der Piepmatz im Bad steht, dafür ist der Kater verantwortlich, dem ich nicht so recht zutraue, den Kleinen als neuen Mitbewohner anzusehen, und nicht als Ergänzung des Speiseplans.
Okay, als ich die Badezimmertüre öffne, kommt der erste vertraute Ton und mit ihm die Freude an dem Federling. Der Schnabel sperrt sich auf in Erwartung des Futters. Ich atme aus und hole die Futterdose. Ich hatte schon befürchtet….
T und ich verbringen den Tag Zuhause mit Gartenarbeit, chillen und Spatz füttern. Der Kleine kommt mir schon viel vitaler vor. Die abendliche Kuschelrunde ist inzwischen ein Ritual, das er zu mögen scheint.
Wenn ich mich dann ganz nah mit dem Ohr zu seinem Kopf neige, höre ich ein winziges Schnalzen und Zierpen, ein XS Geräusch, das völlig anders klingt als der XXL Futterschrei. Ich glaube, es bedeutet: Ich fühl mich wohl und sicher. Zumindest hoffe ich das.

Spatzentage 2

Ich träume. Sommerwiesen in der Toskana, das Zirpen der Zikaden, Vogelgezwitscher. Die Luft riecht nach Hitze und Rosmarin. Schön. Der Gesang der Vögel wird lauter, gräbt sich mit drängender Energie in meine Ohren. Trommelfelle vibrieren.
Ich öffne die Augen. Keine Spur von blauem Sommerhimmel. Grau und dämmrig ist das Schlafzimmer. Ich sehe auf den Wecker. Viertel vor sechs. Noch etwas über eine Stunde bis er loslegt.
Doch aus dem Badezimmer tönt bereits jetzt das hungrige Rufen eines Spatzenbabies. Es klingt nach maximaler Verzweiflung. Noch schneller käme ich, glaube ich, nur dann aus dem Bett, wenn es brennen würde.  Ich hole mir die Dose mit der Quark-Ei Mischung und trage den Karton mit unserem teilgefiederten Gast behutsam ins Esszimmer. Das Schreien wird lauter, schwillt an, bis das erste Bröckchen im Schnabel gelandet ist, dann stoppt es ein paar Sekunden und fängt unvermindert von vorne an. So geht es etwa fünf Minuten.  Zum Glück hat T. den Zahnstocher, den ich zum Füttern benutze abgerundet.
Der kleine Spatz schenkt mir einen kurzen Blick aus einem Auge. Dann schiebt sich ein graues Augenlid von unten über die Pupille.  Der Federling schläft satt und zufrieden ein. Ich tapse zurück ins Bett, wo T. noch friedlich schläft. Er sieht fast so zerzaust aus wie der Spatz.  Großartig, dass ich heut nicht arbeiten muss, denke ich und dass wir danach beide noch zwei Tage frei haben. Ich wühle mich in meine Decken und schalte um auf Kuschelmodus, aus dem mich Ts. Wecker eine Stunde später wieder zurück pfeifft mit seinem nervigen Miep, Miep, Miep. Er wird unterstützt von einem hungrigen Tschilpen  aus dem Bad. Ich versenke erneut Quark-Ei-Bröckchen im Schnabel des Federlings. In meinem Hals spüre ich dabei so einen seltsamen Kloß. Ich spüle ihn später mit Kaffee weg.
Frühstück am Laptop ist besser, als man vermutet. Vor allen Dingen, wenn es in den unendlichen Weiten des virtuellen Raumes etwas über Spatzen und ihre Brut zu lesen gibt.
Mein Fazit nach eineinhalb Stunden: Ich brauche Mehlwürmer, Handaufzuchtfutter und eine riesige Kiste Geduld.
Und, ich weiß jetzt, dass mein kleiner Ziehvogel jede zweite Stunde gefüttert werden muss, aber dafür nachts von circa 22 Uhr bis morgens um sechs schlafen wird. Es scheint, als wären Spatzenbabies in dieser Hinsicht den menschlichen Babies ähnlich.
Okay, dann stelle ich mich eben innerlich auf einen anderen Lebensrythmus ein. Und ehrlich, ich freue mich darauf.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, schreit der kleine Findevogel wieder nach Nahrung. Nach dem Füttern nehme ich ihn in meine Handhöhle. Im Nest sitzen die Jungen dicht gedrängt beieinander. Ich meine, wie soll er sich wohl fühlen, wenn er hier immer nur alleine in seinem Kartonnest liegt?  So völlig ohne Körperkontakt?  Der alte Fritz hat mal ein Experiment mit Babies gemacht. Sie wurden rundum versorgt, aber nicht gestreichelt oder im Arm gehalten. Sie haben  nicht überlebt. Grausam oder?
Ich bin überzeugt, dass auch ein Spatzenbaby kuscheln möchte.
Ich spreche leise zu ihm. Ja, ich spreche mit einem Spatzen. Ich erzähle ihm, was für ein wunderschönes Wesen er ist und wie groß und kräftig er bald sein wird.
Er antwortet nicht.
Sein winziger Körper fühlt sich ganz warm an in meinen Händen. Ich habe gelesen, dass Vögel eine höhere Körpertemperatur haben, als Menschen ungefähr  39° bis 42°.
„Es ist ein verdammtes Geschenk, dich in den Händen zu halten und groß ziehen zu dürfen,  Federling“, sage ich und spüre wie meine Augen ein bisschen überlaufen, als er ein winziges, leises Zirpen und so etwas Ähnliches wie ein Schnalzen von sich gibt.
Glück hat manchmal kleine Federn.

Spatzenzeit

Es war glaube ich John Lennon, der gesagt hat: Leben ist das, was passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu machen.“
Wer auch immer es gesagt hat, der Mann hatte verdammtnochmal Recht.
An dieser Stelle sollte der nächste Teil des Englandtagebuchs stehen. Für alle, die es gerne lesen, es wird natürlich weitergehen, sofern das Leben meine Pläne berücksichtigt.
Nur eben nicht jetzt.
Das liegt daran, dass Juni ist.
Die Spatzen haben ihre Nester am Dach des Pferdestalls gebaut, der sich an unser Haus lehnt wie ein Greis, der Wange an Wange neben seiner Frau auf der Parkbank sitzt.
Wie immer in dieser Jahreszeit höre ich das Schreien der Nestlinge unter dem Dach.
Wie jedes Jahr hoffe ich, dass sie überleben.
Jeden verdammten Juni seit ich hier wohne, fallen ein paar von ihnen aus dem Nest, stürzen auf den Steinboden vor dem Haus. Meistens sind sie sofort tot. Einige von den sehr jungen, noch fast nackten Spatzen, die fast wie kleine Saurier aussehen, starben wenige Minuten, nachdem ich sie gefunden hatte, in meinen Händen. Zwei von ihnen, die schon erste flaumige Federn hatten, überlebten immerhin einige Tage.
Ja ja, ich weiß, es sind nur kleine Spatzen, nichts weiter, sagen manche.
Für mich ist das anders. Ich bin so eine alte Hippie-Else, eine, die im Freibad Wespen aus dem Becken fischt und auf die Wiese trägt, wo sie trocknen und dann weiter fliegen. Klar schimpfe ich auch auf die verdammten Wespen, wenn sie mich mal stechen, aber beim nächsten Mal trage ich sie wieder aus dem Wasser. Als Kind habe ich wohl erwartet, dass sie mich als „besonders nützlich“ kennzeichnen, so dass alle ihre Wespenkollegen das Zeichen sehen und mich verschonen. Wenn ich es genau betrachte, bin ich in meinem Leben tatsächlich nur drei Mal von einer Wespe gestochen worden. Ich nehme an, die drei waren nicht gut im Zeichen lesen. Oder aber sie haben mich auf diese Weise gekennzeichnet und ich seh’s nur nicht.
Egal, was nun die Rettung der gefallenen Spatzenbabies angeht, es blieb jedes traurige Mal bei dem Versuch. Keiner der kleinen Findevögel hat überlebt. Und ja, ich habe geheult. Obwohl ich die Aussichtslosigkeit meiner Versuche  nicht vergesse,  will ich keines von ihnen hilflos dort am Boden liegen lassen wo Pferde, Reiter, Hunde und Katzen vorbei laufen und wo die Eltern keine Chance haben, ihr Junges weiter zu füttern. Ich meine, ich könnte es nicht.  Für mich sind es Babies, atmende, fühlende, kleine Federlinge, die das Potential des freien Falls genaus so in sich tragen wie das des freien Fluges. Alleine das macht sie uns Menschen ähnlich.
Okay, also, wie gesagt, es ist Juni, da fallen  die Spatzen aus dem Nest. Und vor mir auf dem Hof, direkt neben der Mülltonne, hockt plötzlich so ein schreiender kleiner Nestling. Es gibt keine richtige Beschreibung für das Gefühl, das der Anblick dieses winzigen Wesens in mir auslöst. Alles in mir geht auf standby mit Ausnahme dieses namenlosen XXL Gefühls.
Und ehe du bis zehn zählen kannst, sitzt das Vögelchen in einem Karton voller Heu in meinem Badezimmer und ich erinnere mich nur vage, wie es dorthin gekommen ist. Der Kleine ist nicht ganz so federlos wie seine verstorbenen Vorgänger. Er hat sogar schon winzige Schwungfedern an den Flügeln. Wie er da so zusammengekauert im Nest sitzt, könnte man ihn fast für vollständig halten, wäre da nicht dieser übergroße Schnabel mit den gelben Mundwinkeln. Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann, der es noch nie gesehen hat. Wenn der Winzling nur ein wenig die Flügel spreizt und versucht, sich wärmesuchend tief in das Heu zu graben,   dann sieht man, dass er unter den Flügeln und am Bauch noch nackt ist. Seine Haut ist etwas rötlicher, aber im Grunde genau wie unsere Haut.  Ich lege ihm eine Wärmeflasche unter das Heu und koche ein Ei.
Vor kurzem habe ich gesehen, wie ein Nestling gefüttert wurde. Der Tierarzt hatte Quark verordnet, verrührt mit gekochtem Eigelb und geriebenem Zwieback. Kleine Bröckchen dieser Mischung wurden auf einen Zahnstocher gespießt und dem Vogelbaby vorsichtig tief in den weit geöffneten Schnabel gesteckt.
Es kommt mir so vor, als hätte das Leben mir den Crash Kurs in Vogelaufzucht beschert, weil ein Spatzenbaby auf mich wartete. Oder war es am Ende umgekehrt?
Wie auch immer, mein halb gefiederter Nestling bekommt Quark mit Ei und Zwieback. Er sperrt den Schnabel so weit auf, dass man meinen könnte, er wäre ein Schnabel auf Beinen, ziemlich langen, wackeligen Beinen, die ihm das Aussehen eines Flugsauriers geben. Wenn der Schnabel geschlossen ist verleiht er dem winzigen Spatzengesicht etwas clowneskes, wegen der gelben Schnabelränder, die aussehen wie ein aufgemalter Clownsmund. Ein trauriger kleiner Clown, der Hunger hat und friert.

Teil 8. Art Deco Café oder reality beats virtuality

T ist oft auf Twitter unterwegs.
Das wäre nicht erwähnenswert, wenn er nicht, und das ist der springende Punkt, eine Twitter-Freundin hätte, die in Beaminster lebt. Er kennt sie nur virtuell, wie das so ist bei sozialen Netzwerken im Web. Man hat massenhaft Freunde, aber die meisten von ihnen noch nie außerhalb des Internets  getroffen. Ihre Lebenswirklichkeiten berühren deine in der Tiefe des virtuellen Raumes wie angemalte Schatten. Irgendwie bizarr.
Das ist kein Neuland, das ist eher Shadowland.
Ich meine, du verbringst einen großen Teil des Tages mit diesen Leuten, siehst ihre Katzenfotos und Partybilder, auf denen sie mit einem bescheuerten Lächeln einen Caipirinha oder so etwas schwenken. Du liest vielleicht ihre Meinung über die Finanzkrise oder bloß über den European Song Contest. Ich hoffe immer, dass ihre Bilder und die Sachen, die sie über sich erzählen, real sind und nicht frei erfunden. Wie kann ich wissen, ob der lustige Typ, mit dem ich im Facebook Chat schreibe, nicht in Wirklichkeit ein ungewaschener, pickeliger Nerd mit fettigen Haaren ist, der am Laptop sitzt und zwischen zwei Kommentaren Fingernägel kaut bis Blut auf seine Tastatur tröpfelt?
Das erinnert mich an früher. An Brieffreundschaften, die durch die Bravo zustande kamen. Gibt’s die Bravo überhaupt noch? Für alle, die sie nicht kennen, das war eine Art Magazin für Teenies. In jedem Heft gab es eine Seite, auf der man Brieffreunde aus aller Welt finden konnte. Kein Witz. Ich hatte sogar mal eine Brieffreundin in Oregon. Heute besteht diese Kontakt-Seite bestimmt nur noch aus Twitter oder Facebook links. Vielleicht gibt’s die Bravo auch schon längst nicht mehr. Im Ernst, wer braucht schon solchen Kram wie einen Starschnitt von Bushido? Obwohl, Doktor Sommer kommt wahrscheinlich nie aus der Mode.
Wie auch immer. Früher schickte man also lange Briefe mit Fotos von sich. Manchmal  auch nicht von sich, sondern sicherheitshalber von dem attraktivsten Mädchen der Klasse, oder dem coolsten Jungen.  Das unvergleichliche Gefühl, wenn wieder ein Brief mit einer ausländischen Marke im Kasten lag. Nostalgie.
Ehrlich, eine Internetfreundschaft ist daneben eine Notiz-Zettel-Beziehung.
Twitter schießt sowieso den Vogel ab. Man ist dort nicht einmal befreundet, man folgt sich nur gegenseitig.  Wie in dem Märchen „Die goldene Gans“. Das ist die Geschichte von einem Typen, der eine goldene Gans mit sich herumträgt. Das Tier hat die seltsame Eigenschaft, dass jeder, der es anfasst, kleben bleibt. Und damit nicht genug, wer Einen aus der Klebe-Kette anfasst, hängt selber dran.
Klingt unglaubwürdig? Ist es auch. Märchenstund’ hat Trug im Mund, genau wie Werbung und  Politik.
Zurück zur goldenen Gans. Die Idee ist sozusagen ein Vorläufer von Twitter. Man kann sich Twitter so vorstellen, dass es Millionen von Typen mit einer goldenen Gans im Arm gibt. Und fast alle kennen sich gar nicht wirklich, aber sie kleben aneinander fest.
Okay, also T und ich, wir kennen uns tatsächlich und folgen uns gegenseitig und T und L folgen sich auch gegenseitig, aber sie kennen sich nicht real. Und L lebt in Beaminster, wo wir wie gesagt auch grad wohnen. Kann mir noch jemand folgen?
T hat bei Twitter Fotos hochgeladen von dem Hügel mit dem vielen Bärlauch und den blauen Glockenblumen.  Seine Follower, also seine Verfolger, und Millionen andere, die an der Gans kleben, können es sehen. Natürlich sieht L es auch. Sie schreibt, dass wir unbedingt ins Art Deco Café in Beaminster kommen sollen, es gäbe dort kulinarische Kleinigkeiten, die auf hungrige Gäste warten. Die feinen Haare in meinem Nacken vibrieren wie kleine Antennen, als ich ihre Nachricht lese. Das passiert immer, wenn mich im virtuellen Raum ein Hauch von Realität streift. T googelt Art Deco Café, Beaminster , und wir klicken uns durch die Bildergalerie. Das Café sieht ziemlich gemütlich aus.
„Krass, das hab’ ich bei unserer ersten Runde durch den Ort gesehen“, sage ich, und der Hauch von Realität verwandelt sich in eine frische Brise. „Ich dachte mir gleich, dass es nett sein müsste, da zur Tea-Time oder sonst wann einzulaufen.“
„Perfekt“, sagt T und schließt die Seite mit den Fotos,  „unser Frühstück für morgen ist gebucht.“
Am nächsten Vormittag betreten wir einen behaglichen Raum mit grün gestrichenen Wänden, an denen Ölbilder hängen, die vermutlich von lokalen Künstlern stammen.
Hinter einer Glastheke begrüßt uns eine hübsche, blonde Frau. Sie hat etwas Schelmisches im Blick, unterstützt von einem schüchternen Lächeln. Eine interessante Kombination.
„Das könnte L sein“, flüstert T, als wir uns an einen der kleinen Tische setzen. Ich kenne ihr Twitter-Profil-Bild und stimme ihm zu, aber ganz sicher sind wir beide nicht. Die Blonde kommt an unseren Tisch und nimmt die Bestellung auf. Falls sie Ts Twitter Freundin ist, hat sie keine Chance, ihn zu identifizieren, er hat als Profilbild ein kleines Blümchen.
T hat einen etwas schrägen Sinn für Humor.
Das Frühstück ist ein Gedicht, eine Ode an die Frische und  an das Wesentliche, was natürlich wie jedes Gedicht Geschmacksache ist. Der Schokokuchen zum Abschluss ist allerdings eher Rokkoko als Bauhaus und eine Sünde wert. Einerseits möchte ich allen empfehlen, nach Beaminster zu fahren und das Café selber zu testen. Andererseits ist es bei mir oft so dass Dinge, die mir in leuchtenden Farben geschildert werden, manchmal farblos erscheinen, wenn ich sie selber erlebe. Ich glaube, Menschen neigen zu überhöhten Vorstellungen, wenn ihnen etwas angepriesen wird. Manchmal werden diese Vorstellungen von der Realität übertroffen, ein anderes Mal eben nicht. Es ist wie beim russischen Roulette. Du weißt nie, wann die Kugel trifft.
Zurück zu der netten Bedienung. Als wir den zweiten Kaffee bestellen, fragt T, ob sie seine Twitter Freundin L ist.
„Oh, how nice, wie schön“, antwortet sie und lacht. „Ich habe in den letzten Tagen schon Ausschau nach deutschen Gästen gehalten.“ Es klingt irgendwie erleichtert.
„Ein Mal waren sogar ein paar Deutsche im Café, aber die kamen mir nicht richtig vor.“ Sie sagt es natürlich auf englisch, geht zur Theke, um unseren Kaffee zu zapfen und ruft dem Mann in der Küche zu: „Sieh mal, hier sind die beiden Deutschen, von denen ich erzählt habe.“
Der Besitzer des Cafés kommt aus der Küche zu uns an den Tisch, schüttelt uns die Hände und fragt wie uns Dorset gefällt.  „We felt in love with it“, sagen wir. Seine Mundwinkel wandern in Richtung Ohrläppchen. Ich ahne, dass er unsere Freude teilt, vermutlich schon sein Leben lang. Bevor er zurück in die Küche geht, wünscht er uns „a nice stay“. Wir  wünschen ihm einen sonnigen Tag.
Mein Blick begegnet dem von T. Es ist einer dieser makellosen Momente,  in denen man dasselbe empfindet.
Neben uns sitzen zwei alte Männer, jeder an einem eigenen Tisch. Sie reden miteinander wie Nachbarn, die sich von Haustür zu Haustür etwas zurufen. Es geht allerdings nicht ums Wetter, oder um Fußball.
„Farage hats vergeigt“, sagt der eine.
„Ach, hat er es nicht gepackt?“ antwortet der andere und nickt in seine Teetasse.
„ Ja, so ist das wohl“, sagt der erste und nickt ebenfalls. „Thus is life. So what?
Sie nicken unisono und wenden sich dem Wetter zu.
Vor zwei Tagen waren Wahlen in Groß Britannien und Nigel Farage, quasi der Frontmann seiner Partei, der UKIP, hat nicht das Ergebnis erzielt, das er sich erhofft hat. Dabei hat die UKIP unterm Strich erschreckend gut abgeschnitten.  Das Parteiprogramm  ist für meinen Geschmack ziemlich nationalistisch.
Also, damit  ich hier nicht falsch verstanden werde, ich liebe mein Land. Klingt vielleicht komisch, ist aber so. Trotz GroKo und alledem. Und die Dämmerung am Wattenmeer in Deutschland lässt meine Augen genauso leuchten wie ein stiller Hügel voller Bärlauch in Dorset. Das Bewusstsein für die eigenen Wurzeln und die eigene Kultur ist schön, solange man die eigene Wichtigkeit nicht meterhoch über allen anderen vermutet.
Die  unbequeme Idee, dass unsere Wurzeln im Grunde die gleichen sind, wartet im Schatten der menschlichen Hybris auf den Moment zum Ausbruch.
Nationalisten surfen immer so selbstverliebt auf der Idee, dass die eigene Krone mit ihren  Verästelungen die wertvollste ist. Krone der Schöpfung sozusagen. Aber Unterbäume und Herrenbäume gibt es nicht.
Die Wurzel ist Mensch.
Dieser Farage hat jedenfalls, wie ich finde,  einen köstlichen, britischen Humor. Man könnte sagen, dass ich sein Krönchen mag. Ich merke, wie sich bei dem Gedanken ein Grinsen zwischen meinen Ohren breit macht.
„Was ist so komisch“, fragt T.
„Dieser Farage ist irgendwie ein verflixt witziger Typ“, sage ich und stecke mir den letzten Bissen meines Sandwiches in den Mund.  Meine Geschmacksknospen blühen auf. Kauen, genießen, schlucken. Schweigen.
Eine alte Lady betritt das Café.  Mit einem Seufzer lässt sie die Tür hinter sich zufallen. Groß und hager steht sie einen Moment mitten im Raum. Unter ihrem Strohhut ringeln sich ein paar widerspenstig aussehende graue Locken. Ihre   purpurne Jacke leuchtet mit dem lavendelfarbenen Rock um die Wette und gewinnt. Eine große Ledertasche baumelt über der linken Schulter der Lady . In der Hand trägt sie einen Stockschirm mit Rosenmuster. Sie steuert eine Ecke des Cafés an, wo sie sich mit einem weiteren Seufzer auf die Couch fallen lässt, den Schirm an die Wand lehnt und aus ihrer Handtasche eine flache, silberne Flasche hervor kramt.
„Fuck, verdammtes alt werden“, sagt sie laut zu niemand bestimmtem und nimmt einen Schluck aus der Flasche. Ihre Augen funkeln graublau.
„Alte Knochen knirschen und werden morsch. Da wird man total depressiv.“
Ihr Satz kreist in langsam abebbenden Schallwellen durch den Raum. Die Lady schickt ein krauses Grinsen in die Runde, stellt die Silberflasche auf den Tisch, lehnt sich ächzend zurück, zieht ein Buch aus der Tasche und liest.
„Ich liebe die Briten“, sage ich.
T lacht. Ich kann mich nie entscheiden, ob ich seine Augen bei graublau oder graugrün einordnen soll.  Sie lachen auf jeden Fall immer mit.
Wir gehen zur Theke, um zu bezahlen und uns von L zu verabschieden.
„T sagt, dass du Bücher schreibst und einen Preis für dein Kinderbuch bekommen hast“, sage ich.
Sie winkt ab, „Ach das, ja, ich mache auch Musik und male. Ich weiß nicht, was daraus mal wird. Es macht mir einfach Spaß.“ Sie lächelt dieses sympathische, schüchterne Lächeln. Später höre ich mir ihre Musik bei soundcloud und bandcamp an und denke, dass sie zu bescheiden ist. Mir gefällt es, wie sie singt. Ich werde auch versuchen, ihr Buch zu bekommen.
Es ist immer wieder schön, wenn aus Virtualität Realität wird.
Wir folgen uns jetzt auf Twitter.

Englisches Tagebuch Teil 7: please relax oder Glastonbury remix

Egal, wohin wir fahren, ich könnte schwören, dass T. immer die besten Sehenswürdigkeiten kennt.
Ich meine, ich alleine würde in irgendein Land reisen, leicht verpeilt, aber glücklich durch die Tage trudeln, und schon wäre der Urlaub vorbei.
Ich fühle mich im Urlaubsort immer, als lebte ich schon jahrelang dort, entdecke ein Lieblingscafé, wo ich sitze und schreibe oder lese, fahre mal zum shoppen in eine andere Stadt, und wenn ich Lust auf Live-Musik oder Theater habe, suche ich auf dem großen, world-wide-wühltisch, ob es in der Nähe etwas gibt, das sich nach einem tollen Event anhört.
Klar, auf die Art verpasst man oft etwas, aber das ist nicht schlimm, weil ich es sowieso nicht merke. Wenn, dann erst Wochen später. Das Leben ist eben oft ein großes Staunen über das, was alles passiert, während man nicht hinsieht.
Bei T. ist das anders. T. liest Veranstaltungskalender und Reiseführer. Er studiert sie, als müsste er einen Vortrag halten. Und natürlich weiß er genau, welche Ziele eine Tagestour wert sind.
Ziemlich weit oben auf seiner Liste der interessanten Orte in Dorset, steht Glastonbury, die sagenumwobene Stadt des heiligen Gral, das ist der Kelch, in dem Josef von Arimathia das Blut des Gekreuzigten aufgefangen haben soll. Er hat den Gral auf schnellstem Weg nach England gebracht und am Fuß des Glastonbury Tor vergraben, einem 160 Meter hohen Kegelberg, auf dessen Spitze ein Kirchturm aus dem vierzehnten Jahrhundert steht, St. Michael.
Und es geschah ein Wunder. Was auch sonst?
Kaum war der blutgefüllte Kelch in der Erde, sprudelte eine Quelle aus dem Boden, eine mit heißem, rötlich schimmerndem Wasser, die blood spring genannt wird. Blutquelle, das muss man sich mal im Hirn zergehen lassen.
Und als ob das noch nicht genug Magie und Mystik  wäre,  sagt man, dass Glastonbury das geheimnisvolle Avalon ist. Das ist die Insel zu der König Artus nach der Schlacht von Camlann segelte, einsam und tödlich verwundet. Überflüssig zu erwähnen, dass er und seine Guinevere angeblich in Glastonbury begraben sind, weshalb die kleine Stadt schon im Mittelalter ein Wallfahrtsort war.
Es gibt zwei Dinge, die ich dabei nicht kapiere.
1. Wie kann ein Ort, der mitten im Land liegt, eine Insel sein?
2. Wenn das tatsächlich Avalon ist und König Artus alleine dorthin segelte, wieso verdammt noch mal, ist seine Frau dort mit ihm zusammen begraben?
Klar, wir können gar nicht anders, als nach Glastonbury zu fahren.
Die Fahrt zieht sich in die Länge, was an den vielen Kreisverkehren auf der Schnellstrasse liegt. Kurz bevor wir den Ort erreichen, sehen wir auf einem Acker ein gigantisches Schild, auf dem das Glastonbury – Musikfestival angekündigt ist, das hier auf den Wiesen jedes Jahr stattfindet, eine Art Woodstock made in Dorset.
Wenig später sehen wir ihn. Kurz hinter dem Ortseingang, an der rechten Seite, ragt er majestätisch in die Höhe, der Kegelberg mit dem St. Michaels Tor.
„Ich muss pinkeln“, sage ich.
T. nickt. „Passt schon, ich hab’ sowieso Lust auf ein Stout.“
Wir fahren auf einen Parkplatz in der Stadtmitte, den Ort auf uns wirken zu lassen, zu bummeln und irgendwo ein Stout aufzutreiben.
Die Parkgebühren sind fair, wie auf den meisten Parkplätzen hier. Was mir im Augenblick viel wichtiger erscheint, dass es ein Toilettenhäuschen gibt, eine public toilet, die ich eilig ansteuere. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich in Dorset noch nie eine schmutzige, öffentliche Toilette erlebt habe.
Als ich das Natursteinhäuschen betrete und die Tür hinter mir abschließe, nagelt es mich unversehens am Boden fest. Das Klo sieht aus wie andere Parkplatzklos, pflegeleichter Edelstahl und eines dieser tricky Waschbecken, in denen man gleichzeitig Seife Wasser und warme Luft zum Waschen und Trocknen der Hände bekommt. Stell sich das ma einer vor. Aber das geht wahrscheinlich nicht, wenn man es nicht selber gesehen hat, und es ist wirlich nichts, das einem die Füße an den Boden nagelt. Was mich mit offenem Mund stehen und staunen lässt, obwohl ich dringend pinkeln muss, ist die Musik.
Aus einem unsichtbaren Lautsprecher dudelt sanfte Meditationsmusik im Stil von „Keltische Klänge für Jeden“.
Ich merke kaum , wie ich die Jeans herunterziehe und auf die Klobrille sinke. Pinkeln zur celtic harp, definitiv nichts, das man jeden Tag erlebt.
Während es unter mir sanft plätschert und über mir lieblich dudelt, sinkt mein Kinn fast auf die Brust und meine Augen schalten um in den ich-seh-nix-obwohl-ich-gucke-Modus, aus dem sie jäh zurückzucken, als sich eine Stimme aus dem Lautsprecher schlängelt, eine Frauenstimme, die im Tonfall einer Meditationstrainerin in meine Ohren säuselt:
“Welcome in our public toilet. Please relax and leave the place like you want to find it. Thank you for coming. We wish you a nice stay.”
Ehrlich, das haut mich vom Thron. Noch halb in Trance ziehe ich den Reißverschluss der Jeans zu. Hände waschen und nichts wie raus hier.
Vor der Tür steht T.
„Hattest du auch Musik auf dem Klo“, frage ich und merke, wie mein Blick sich allmählich aus der glasigen Starre befreit.
T. verneint.
„Wie jetzt“, hake ich nach, „no music, no warm welcome?“
T. schüttelt den Kopf.
Ich nicke. „Ist wohl nur für Frauen. Männer würden bestimmt brüllend die Wand anpinkeln“, sage ich, „wer will das schon?“
Jetzt brauche ich dringend Kaffee. Auf dem Weg in Richtung Stadtzentrum erzähle ich T. detailliert von meiner unheimlichen Begegnung der sanitären Art. Als wir die Hauptgeschäftsstraße erreichen, fühle ich mich übergangslos wie beim Jazz-Festival in Moers, oder bei einem dieser
Folk-Rock-Festivals, wo sich ein Verkaufsstand mit Indienkram an den anderen reiht. Nur, dass es hier in Glastonbury Geschäfte sind, Indienshops und Esoterik-Läden, die Kristalle, Runensteine und anderes magisches Zubehör auf beiden Seiten der Straße anbieten.
Über allem schwebt ein Duft nach Räucherstäbchen und ätherischen Ölen. Frauen in langen, Samtkleidern mit viel violett und rot, stehen vor den Geschäften und unterhalten sich, vermutlich über Mondphasen, Monatszyklen oder das Erlebnis, der Göttin zu begegnen. Zumindest sehen sie nicht aus, als ob sie Backrezepte austauschen.
Männer mit langen Haaren und bestickten Westen schlendern die Straße entlang. Einige tragen Gitarrentaschen auf dem Rücken und mittelalterlich anmutende Mützen auf dem Kopf. Andere sehen einfach nur aus wie abgewetzte Althippies und ziehen eine Wolke von Grasgeruch hinter sich her.
Wir sind anscheinend in einer verdammten Hollywoodkulisse gelandet. Ich frage mich, ob es hier noch waschechte Engländer gibt, originäre Dorseter. Wenn ja, dann haben sie sich an den Stadtrand zurückgezogen und das Zentrum Heilssuchern aus ganz Europa überlassen. Zwischen den enthusiastisch bunten Läden gibt es Cafés und Gaststätten mit vegetarischen und veganen Speisekarten. Das meiste ist organic food. Neben manchen Türen hängen Schilder, auf denen Tarotkarten legen, Kristallkugel lesen, Energiearbeit, Yogakurse und anderes Zeug aus dem Füllhorn der Esoterik angeboten wird.
Ich schließe die Augen, versuche den Traum abzuschütteln. Als ich sie wieder öffne ist alles noch genauso anwesend wie vorher, bunt und unheimlich real.
„Ich brauche Chips“, flüstere ich, „am besten eine Killerportion“. während ich verstohlen über die Schulter spähe und hoffe, dass die Ladies of Shalott mich nicht gehört haben. Wir steuern verschiedene Lokale an. Nirgendwo gibt es um diese Zeit Chips.  „It’s tea-time, verkündet man uns. Die hübsche Bedienung in einem der Cafés bietet mir mit beruhigendem Lächeln carrot-cake an. Ich brauche keinen bescheuerten Möhrenkuchen.
Ich will fetttriefende Pommes, um meine gewöhnliche Realität zu spüren.
Unwillkürlich schlagen meine Füße den Weg zum Parkplatz ein. Ich sehe ihnen beim Laufen zu und frage mich, ob ich sie wohl überholen könnte.
Die Göttin steh’ mir bei, ich glaube ich bin dicht am Wahnsinn. Ich spüre schon, wie sich ein hysterisches Kichern in meiner Kehle auf den Ausbruch vorbereitet. Glastonbury schafft mich.
Auf dem Parkplatz flüchte ich hilfesuchend aufs Klo. Meditative keltische Klänge umschmeicheln mich erneut, als ich mich auf die Brille fallen lasse.
„Please relax and leave the place like you wish to find it”, wispert die Yogatrainerinnenstimme. Ich atme sehr langsam ein und noch langsamer wieder aus. Plötzlich kommen mir japanische Touristinnen in den Sinn. Ich kann gar nicht mehr aufhören, daran zu denken, wie sie immer wenn sie auf eine öffentliche Toilette gehen, fürchten, dass man draußen ihre Pinkelgeräusche hört. Es macht mich ganz fertig, wenn ich mir vorstelle, wie sie mit schamroten Gesichtern diese Toilette betreten, die Musik hören, sich mit einem seligen Lächeln auf die Klobrille setzen, wo sie der Natur ihren Lauf lassen. Sie lauschen der Musik und verstehen vielleicht kein Wort von der Begrüßung aber Verstehen ist unwichtig. Es zählt nur, dass niemand sie hören kann, egal wie laut und lange sie pinkeln. Es schüttelt mich richtig, wenn ich daran denke, wie glücklich die armen schamhaften Japanerinnen hier in Glastonbury sein dürfen.
Ich lasse das Kichern aus meiner Kehle frei . Es verwandelt sich in lautes Lachen.
Als ich aus dem Häuschen komme, sehe ich in der Ferne den Kegelberg, an dessen Fuß die bloody source sprudelt. Den Teufel werde ich tun,  jetzt diesen Hügel zu besteigen. Ich will zurück nach Beaminster, wo von morgens Sieben bis nachts um Zwölf die Welt noch in Ordnung ist. Oder was  viel besser ist, wir fahren  zuerst ans Meer, nach Westbay, wo es nach Fisch riecht und im Hafen zahllose Imbissbuden Fish and Chips anbieten.
Saint Michaels Tor kann warten.
Bevor mich jemand falsch versteht, Glastonbury ist ein wirklich schönes, altes Städtchen und dieser ganze Esoterikrummel durchaus charmant, wenn man darauf vorbereitet ist. Beim nächsten Mal werde ich den Hügel besteigen, Räucherstäbchen, bunte Tücher oder Patchouli kaufen und ein Stück carrot-cake essen.