Eine Nacht für Juli Quartalslesung letzter Teil

Bei der Oma gefiel es mir, trotz der strengen Lehrer in der katholischen Schule und trotz des sonntäglichen Kirchgangs für den ich früh um fünf aufstehen und fast noch im Halbschlaf die Sonntagskleider anziehen musste. Die Erwachsenen gingen ohne Frühstück in die Messe. Wir Kinder bekamen Honigmilch, auf der sich eine zarte Haut bildete.
In der Kirche schwebte ein Übelkeit erregender Geruch nach Weihrauch, alten Mauern und feuchten Mänteln. „Oh Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund“, wiederholte die versammelte Kirchengemeinde jeden Sonntag. Wieder und wieder.
Ich hatte keine Vorstellung, an welcher Krankheit die Seele der Leute litt oder wo im Körper sie zu finden wäre. Als ich Mutter und Oma fragte, lachten sie.
„Ach Juli, du Schäfchen“, sagte Oma. „Keiner ist krank, das ist nur ein Gebet, das man aufsagt.“
Niemand erklärte mir, warum wir bei der Oma wohnten.
„Es ist eine schwierige Zeit“, sagte meine Mutter.
Manchmal lauschte ich den Gesprächen der Erwachsenen, die meine Anwesenheit vergaßen, wenn ich mich still mit meiner Puppe beschäftigte. So erfuhr ich, dass Vater seine Arbeit verloren hatte und dass wir nicht in unsere Wohnung zurück konnten, weil die auch weg war. Ich verstand nicht, wie ein Zuhause und eine Arbeit einfach verschwinden konnten. Wochen später hörte ich Mutter und Oma darüber sprechen, dass Vater endlich Arbeit hätte und auch bald eine neue Wohnung finden würde.
Warum suchte er eine neue? Warum suchte er nicht nach der alten, verloren gegangenen? Ich traute mich nicht, danach zu fragen.
„Wo wohnt der Papa denn jetzt?“, fragte ich stattdessen. Mutter presste die Lippen zusammen und ging aus dem Zimmer. Oma nahm mich in den Arm.
„Er wohnt jetzt bei seiner Mama“, sagte sie.
„Bei Oma Dutti?“
„Ja.“
„Aber ich wünsch mir, dass er unsere Wohnung findet.“
Oma lachte.
„Die findet er ganz bestimmt“, sagte sie und strich mir über den Kopf. Ihre Hände rochen nach Minze und nach etwas anderem, etwas, dass ich nicht benennen konnte. Es gehörte zu ihr wie die vielen kleinen Falten in ihrem Gesicht und die gute Butter, die sie mir aufs Brot strich.
Für Vater mag es ein Glück gewesen sein, dass er bei Oma Dutti untergekommen war, aber mir fehlten seine Geschichten und Lieder. Ein betrunkener Vater war wie ein gebrochenes Bein. Gar keinen Vater zu haben fühlte sich an wie ein amputiertes Bein, irreparabel, dauerhaft von Krücken abhängig, halb.
Ein halbes Jahr später saßen wir wieder vereint beim Frühstück. Die neue Wohnung lag in einer typischen Ruhrgebietsstadt. Mir gefiel es dort. Wo vor dem Krieg die hochmütigen Häuser der Jahrhundertwende ihre Schornsteine in den Himmel gereckt hatten, deckte die Natur einen grünen Belag über die Brachen. Dort gruben die großen Jungen tiefe Löcher, die wie breite Gräber aussahen. Sie trugen alte Matratzen, Teppiche und Decken hinein und deckten alles mit Brettern ab.
Meine Freundinnen und ich standen und sahen mit aufgerissenen Augen, wie die Budenbauer mit Zigaretten und Streichhölzern im Untergrund verschwanden. Sie waren Helden.
„Dürfen wir mit?“, traute ich mich ein Mal zu fragen. Der Anführer hakte die Daumen in die Hosentaschen, sah uns mit zusammengezogenen Brauen an, nickte knapp.
„Na gut, ausnahmsweise.“
Wir folgten ihm nach unten. Es roch nach Erde und Rauch. Schweigend saßen wir an kühle Lehmwände gelehnt, die feuchten Hände ineinander verschlungen, ehrfürchtig und voll Verlangen, groß und stark zu sein.
Wenn ich meine Eltern ansah, kam mir das erwachsen sein allerdings nicht besonders erstrebenswert vor. Ihr Kettenkarussell des Streitens und Versöhnens drehte sich wie ein verdammtes Perpetuum Mobile.

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