Federling

Es ist halb sieben, als ich aufwache. Der Wecker hat noch nicht geklingelt. Es ist still. Kein Tschilpen. Na ja, gestern abend war es spät. Ich gehe ins Badezimmer. Als ich die Tür öffne, wird er nicht wach.
„Aufwachen, Piepmatz“, sage ich und habe ein ganz mieses Gefühl. Er müsste eigentlich wachwerden. Vorsichtig linse ich durch das Tuch auf dem Käfig. Ich sehe keine vertraute, plustrige Spatzenkugel auf der Stange. Vielleicht sitzt er ja im Heu. Eigentlich weiß ich es, aber ich will es nicht wissen.
Ich nehme das Tuch vom Käfig. Er liegt auf dem Boden im Heu, so ganz klein und unplustrig. Regungslos. Ein Federling, der fortgeflogen ist.
„Er ist tot“, schreie ich und trage den Käfig ins Schlafzimmer. „Er ist verdammtnochmal tot T. Wieso? Das kann gar nicht sein.“
T sagt, dass er dasselbe miese Gefühl beim aufwachen hatte,als er kein Tschilpen hörte.
Ich nehme den Kleinen Spatzen behutsam in meine Hand, als ob es nicht längst egal wäre, als ob noch etwas kaputt gehen könnte. Er fühlt sich fast an wie immer. Er ist in meiner Handhöhle geborgen, aber er ist nicht da.
Heulend sitze ich auf dem Boden neben dem Käfig, eine Ewigkeit, den toten Federling in der Hand. Ich heule und spreche mit ihm, mit T, mit dem Universum, mit mir selbst: „Aber, warum?“
T versucht mich zu trösten. Ich bin untröstlich. Irgendwann, hundert Stunden später, bette ich den Federling in ein Nest aus frischem Heu und lege es in einen Schuhkarton. Darin liegt er bis zum Abend. Als T von der Arbeit kommt, begraben wir ihn mit dem Heu unter einem Ahornbaum hinter dem kleinen Reitplatz. Ich halte das Nest in den Händen, sehe den kleinen Körper mit den braungrauen Federn noch ein Mal an und weine. Diese Woche wollten wir ihn fliegen lassen.

Es gibt unzählige Spatzen. Der Federling ist nur einer von ihnen. Aber für mich ist es genau so, wie es im Buch „Der kleine Prinz“ steht. Wenn du dir ein Wesen, das nur eines unter vielen ist, vertraut machst, wenn du dich auf dieses eine einlässt, dann wird es besonders für dich. Es ist nicht länger ein Spatz unter vielen, sondern der Eine, mit dem du vertraut bist.
Dann tschilpt er nicht mehr wie alle Spatzen, sondern alle tschilpen wie er. Und du hörst immer ihn.

7 Gedanken zu “Federling

  1. Ach Du Sch… — als ich meien Artikel fertigstellte, konnte ich diesen Text noch nicht lesen.

    All die Zuversicht, all die Freude und Sorge um diese kleine Leben, die ich hier las — und nun so ein Schreck? Ich säße heulend in der Ecke, würde mich einigeln und immer wieder nach einem Warum und wieso und Was-hab-ich-falschgemacht fragen.

    Ich bin auch so wirklich traurig. Weil ich sehe/lese, wie die Freude gerade davongeflogen ist …

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    1. Ach, Emil, ja ich heule tatsächlich, hab den Käfig hier stehen und bringe es nicht über mich, den in den Keller zu tragen. Und draußen tschilpen die Spatzen. Und bei jeder Twitter Nachricht denke ich daran, wie der Federling jedes Mal darauf geantwortet hatte. Aber die Freude ist nicht weggeflogen. Das Gefühl des kleinen Vogels in meiner Hand ist noch da. Und das ist irgendwie auch die Freude, es erlebt zu haben.

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